Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch
Man kann sich seine Familie nicht aussuchen, aber man kann das Beste daraus machen. Das trifft zweifelsfrei auf Ferdinand von Schirach zu. Sein Opa war der NS-Reichsjugendführer Baldur von Schirach, sein Uropa Hitlers Stammfotograf Heinrich Hoffmann. Als jemand, der nicht ganz unbeleckt ist, was das Verlagswesen angeht, kann ich mich des Verdachts nicht erwehren, dass der Name und die Familiengeschichte eher hilfreich waren, als der Jurist nach einem Abnehmer für seine Geschichten suchte. Inzwischen ist der Mann einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller überhaupt und könnte vermutlich sogar seinen Einkaufszettel verlegen lassen.
Sein neuestes „Buch“ kann man wohl als Beweis dafür sehen: „Jeder Mensch“ ist ein kleiner Band mit gerade mal 32 Seiten. Ich vermute, das Manuskript war nicht länger als zehn A4-Seiten. Damit das Büchlein nicht ganz so dünn aussieht, hat man ihm einen Hardcovereinband spendiert. Dennoch: Die fünf Euro, die dafür verlangt werden, sind schon ein wenig unverschämt.
Worum geht’s aber eigentlich? Schirach möchte gerne neue Grundrechte in Europa einführen. Die werden bereits hinten auf dem Buch verraten. Es wäre vermutlich aber technisch zu aufwendig gewesen, ein einzelnes Blatt Papier mit einem Hardcovereinband zu versehen, also musste der Autor noch ein bisschen Schwafelei rundherum tippen, was einerseits ein geschichtlicher Abriss zu älteren Erklärungen von Grundrechten ist und andererseits ein Appell an die Leser, doch bitte für die Einführung seiner Grundrechte zu stimmen. Und ich kann mir nicht helfen, aber wenn man eine Massenbewegung in Gang setzen möchte, ist es heutzutage vielleicht nicht das Cleverste, eine Fünf-Euro-Startgebühr für die „Bibel“ zu verlangen.
Schirach beginnt sein Buch nicht etwa mit den Artikeln, sondern in der Geschichte der amerikanischen Revolution gegen das britische Mutterland. In der Unabhängigkeitserklärung von 1776 findet sich fast am Anfang ein berühmter Satz (den ich in der Schule sogar im Original auswendig lernen musste):
Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.
Schirach überspringt dann elf Jahre und befasst sich mit dem Zusammentreffen von 55 Delegierten in Philadelphia, bei dem die (zweite) amerikanische Verfassung ausgearbeitet wurde. Der Autor verweist darauf, dass zu der Zeit 700.000 Sklaven in der jungen Nation lebten und viele der Delegierten selbst Sklaven besaßen.
Der vielleicht klügste Mensch des Konvents, Alexander Hamilton, hatte nur ein paar Jahre zuvor ein Buch – Thomas Hobbes‘ „Leviathan“ – gekauft und seinem Vater geschrieben, Bücher seien so teuer, dass er schon bald „genötigt“ sei, „einen Neger zu verkaufen“.
Dass Alexander Hamilton der klügste Mensch des Konvents gewesen sein soll, darüber kann man trefflich streiten, ich vermute, dass Juristen ihresgleichen einfach höher bewerten; ich würde da doch eher auf den ebenfalls anwesenden Benjamin Franklin setzen, der anders als Hamilton nicht so dumm war, sich auf ein Duell einzulassen und dabei zu sterben. Aber die Klage von Hamilton über Buchpreise kann ich durchaus nachvollziehen: Ich hasse es, Neger verkaufen zu müssen, nur um was lesen zu können, deswegen versuche ich, die Preise meiner Bücher so sozialverträglich festzulegen, dass man höchstens ein Zigeunerkind entbehren muss.
George Washington, der den Konvent leitete, trug eine Zahnprothese aus Elfenbein und neun Zähnen, die seinen Sklaven gezogen worden waren.
Das ist Spekulation: Bekannt ist lediglich, dass er von seinem Zahnarzt Sklavenzähne kaufen ließ. Das waren aber nicht die seiner eigenen Sklaven. Die Sklaven wurden auch nicht von ihren Herren gezwungen, ihm die Zähne zu verkaufen; wie viele arme Menschen in der Zeit verdienten sie sich mit dem Verkauf ihrer Zähne ein „Taschengeld“ nebenbei. Traurig, aber nicht so brutal, wie Schirach es anklingen lässt.
Erst 1965 wurde Schwarzen in den USA das volle Wahlrecht zugestanden. Die unveräußerlichen Rechte, die die Unabhängigkeitserklärung jedem Menschen bescheinigte, waren also, wie Schirach weiter ausführt, lange Zeit eine Utopie. (Fairerweise: Die Unabhängigkeitserklärung sagt konkret nichts vom Wahlrecht.)
Das, so Schirach, treffe auch auf die zweite große Erklärung des späten 18. Jahrhunderts zu. Die wurde maßgeblich vom Marquis de Lafayette verfasst. Der junge Aristokrat war (zunächst entgegen der Anordnung des französischen Königs) zur Zeit der amerikanischen Revolution nach Amerika gereist und hatte die kontinentale Armee gegen die Briten unterstützt. Er kehrte, hüben wie drüben als Kriegsheld verehrt, zurück nach Frankreich und unterstützte einige Jahre später die Französische Revolution. Dort fiel er aber bald in Ungnade (da er nicht so scharf drauf war, die Königsfamilie umzulegen, und auch eher eine konstitutionelle Monarchie befürwortete) und musste Frankreich verlassen, um nicht seinen Kopf zu verlieren. Lafayette verbrachte die nächsten Jahre in österreichischer (und zwischendurch preußischer) Gefangenschaft, bis er 1799 nach Frankreich zurückkehren konnte. Politisch wurde er erst wieder in der französischen Revolution von 1830 für nur kurze Zeit aktiv.
Kurz vor dem Sturm auf die Bastille 1789 hatte Lafayette (unterstützt vom damaligen US-Botschafter in Paris, Thomas Jefferson, der auch die Unabhängigkeitserklärung schrieb) eine „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ verfasst. Auch in dieser heißt es: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ Wie man an der (oben von mir erläuterten) Biografie Lafayettes sieht, war auch diese Erklärung eher eine Utopie.
Schirach springt dann in die Neuzeit: 2009 trat nach einigen Schwierigkeiten die „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ in Kraft. Aber, so lamentiert Schirach, sie sei doch nur ein Kompromiss, und „selbst wenn EU-Mitgliedsstaaten sie systematisch verletzen, kann sie nicht vor den Europäischen Gerichten eingeklagt werden“. Und überhaupt, sie habe „nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789“.
Jetzt legt Schirach aber beim Pathos eine Schippe drauf, denn er macht sich langsam warm für das, was schon auf der Rückseite des Buches steht.
Nie zuvor war zwischen den Ländern Europas so lange Frieden wie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Zumindest zwischen den wichtigen Ländern, gell?
Nie zuvor konnten wir unsere Lebensentwürfe so selbstbestimmt verwirklichen, nie zuvor war unser Leben in einem solchen Umfang in Würde, Freiheit und Gleichheit möglich. Die Utopien der großen Erklärungen der Menschheit wurden weitgehend wahr.
Tja, da haben wir’s: Die europäische Grundrechtecharta war eigentlich gar nicht nötig, hat auch ohne sie super geklappt.
Aber jetzt stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen. Die Unterzeichner der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Erklärung der Menschenrechte, die Mütter und Väter der alten Verfassungen in Europa kannten das Internet und die sogenannten Sozialen Medien nicht, sie wussten nichts von der Globalisierung, der Macht von Algorithmen, der künstlichen Intelligenz und dem Klimawandel. Die Gefahren, denen wir heute ausgesetzt sind, waren damals noch nicht einmal zu erahnen.
Mittlerweile habe ich Schwierigkeiten, mir das Augenrollen zu verkneifen, wenn irgendein Typ antanzt und im Hinblick auf Internet, soziale Netze, Algorithmen und KI voll Panik schiebt und brüllt: „DAS ÄNDERT ALLES!“ Wenn man sich mal ein bisschen informiert und auch Forschungsergebnisse wälzt, stellt man meistens fest, dass die Angst größtenteils unbegründet ist und im Prinzip noch die gleichen alten Mechanismen und Regeln am Werk sind. Aber medial macht’s natürlich schon einen geileren Eindruck, wenn man so tut, als wenn bald alles vor die Hunde geht, wenn man nicht JETZT! SOFORT! WAS! TUT!
Stellen Sie sich deshalb vor, es gäbe sechs neue Grundrechte. Grundrechte, die einfach sind, naiv und Ihnen utopisch erscheinen mögen. Aber genau darin könnte ihre Kraft liegen.
Wenn Juristen einfache Rechte wollen, dann muss da ein Haken sein. Jede Datenschutzerklärung ist ein Musterbeispiel dafür, dass ein abgeschlossenes Jurastudium sich nicht mit „einfachen“ Formulierungen verträgt, weil man ansonsten dreifach über den Tisch gezogen wird.