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Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch

Schirach geht nun davon aus, dass man jetzt aufgeregt mit den Füßen scharrt, um diese Grundrechte Realität werden zu lassen. Er erinnert daran, dass man sich anders als die amerikanischen Gründerväter oder Lafayette nicht mit allerlei Gefahren und Unannehmlichkeiten herumschlagen muss, um Gehör zu finden, denn schließlich haben wir das Internet.

Gleichzeitig will er aber auch nicht, dass uns unsere Macht zu Kopf steigt, weswegen er erklärt, wieso direkte Demokratien und Volksabstimmungen eigentlich total scheiße sind, weil wir zum Beispiel kurz nach einem Sexualmord an einem Kind mit überwältigender Mehrheit für die Wiedereinführung der Todesstrafe stimmen, also in emotionalem Überschwang extreme Maßnahmen befürworten würden, die im Endeffekt für die Gesellschaft nachteilig wären.

Ergo: Direkte Demokratie ist eigentlich schlecht. Außer jetzt bei dieser Grundrechtssache. Da wäre es total knorke, wenn wir nun bei einer Internetpetition für die Einführung dieser sechs Schirach-Grundrechte unseren Friedrich Wilhelm drunter setzen würden, denn auf normalem Weg über die Parlamente wären diese Grundrechte nicht durchsetzbar. Und da packt Schirach auch wieder die dicke Tube Pathos aus, nachdem er davon redet, dass die normale Demokratie langsam und voll von Kompromissen ist und das ein Vorteil gegenüber autoritären Regimen wie China sei.

In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, dass auch in einer Demokratie fast alles möglich ist, wenn Gefahr droht. Diese Kraft brauchen wir auch jetzt. Die Umwälzungen der letzten Jahrzehnte sind zu gewaltig, der alte Rahmen für das freie Spiel der Kräfte ist verbogen, an manchen Stellen ist er schon zerbrochen.

Na ja, egal wie man zu den Corona-Maßnahmen steht, man wird zugeben müssen, dass das nicht unbedingt ein Musterbeispiel demokratischer Mitbestimmung war, auch wenn man vielleicht gar nicht anders handeln konnte. Und inwieweit die Veränderungen der letzten Jahrzehnte tatsächlich durch die vorgeschlagenen Grundrechte bewältigt werden sollen, ist mir schleierhaft.

Aber wenn wir wollen, können wir die Zukunft noch einmal so gestalten, wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Erklärung der Menschenrechte es in ihrer Zeit getan haben.

Schreibt der Mann, der der am Anfang erklärte, dass man sich nicht sehr dabei beeilt hatte, diese Erklärungen auch in die Tat umzusetzen.

Nichts hat eine solche Kraft wie der gemeinsame Wille der Bürgerinnen und Bürger. Es sind ja unsere Gesellschaft, unsere Welt und unser Leben. Und wir sind es, die Verantwortung für die Menschen tragen, die schwächer sind als wir.

Und zum Glück haben wir alle die gleichen Vorstellungen, wie unsere Gesellschaft, unsere Welt und unser Leben aussehen sollten, und können daher bedenkenlos für die schwächeren Menschen reden und handeln.

Sie können also am Schreibtisch auf Ihrem Laptop oder im Kaffeehaus auf Ihrem Smartphone für die neuen Rechte stimmen. Es scheint in dieser neuen Zeit einfach zu sein. Aber in Wirklichkeit ist es das natürlich nicht. Weltkonzerne, die jede Gewohnheit, jede Krankheit, jede sexuelle Präferenz, jeden Tagesablauf und jede Äußerung von Milliarden von Menschen kennen und für die solche Daten eine Handelsware sind, wollen sich nicht regulieren lassen.

Oh, die bösen Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen wir so eifrig benutzen, dass wir sie zu Weltkonzernen gemacht haben! Die finsteren Mächte, die unser Geld wollen! (Ganz anders als z.B. Staaten, die uns mit solchen Informationen noch viel direkter schaden könnten, aber die sind ja nicht das Problem. Die Weltkonzerne sind es, jawoll.) Zum Glück haben wir Konsumenten Bürger ja überhaupt nichts damit zu tun, dass sie über diese Informationen verfügen.

Auch dem Recht auf eine gesunde und geschützte Umwelt und dem Recht auf Waren, die ohne Kinderarbeit und ohne moderne Sklaverei hergestellt werden, stehen massive finanzielle Interessen entgegen. Sie alle werden sich wehren, und das ist auch ihr Recht.

Das sind aber normalerweise eher kleine Unternehmen (wie Kleinbauern, was gerade bei Kakao üblich ist), die auf Kinderarbeit und Sklaverei zurückgreifen, und das nicht unbedingt, weil große Unternehmen sich das so wünschen. (Schlechtes Image ist schließlich auch nachteilig fürs Geschäft.) Da ist auch „Die müssen mehr Geld zahlen“ nicht die einfache Lösung; die Kakaopreise sind in den letzten zehn Jahren enorm gestiegen (deutlich über die Mindestpreise, die etwa Fairtrade vorgibt), das hat sich aber auch recht wenig auf die (bereits illegale) Kinderarbeit ausgewirkt. Der Glaube, so ein Grundrecht in Europa würde die Probleme in außereuropäischen Ländern lösen, fußt auf der Vorstellung, dass die Unternehmen hier an dem Elend dort hauptschuldig wären. So simpel ist das aber nicht, denn auch in Afrika tun die Menschen nicht einfach das, was der weiße Mann oder der große Konzern ihnen sagt, und haben somit auch eine eigene Verantwortung. Ihnen die abzusprechen, wäre ein neuer Kolonialismus.

Es wird also ein langer, komplizierter und teurer Weg, und Sie werden Ihre Entscheidung immer wieder verteidigen müssen. Aber Sie werden den nachfolgenden Generationen etwas Glückliches, etwas Strahlendes hinterlassen. Und irgendwann werden Sie sagen können: „Lafayette, wir sind hier.“

Und das nur, indem man eine Online-Petition unterschreibt. Andere mussten noch Penicillin oder Herzschrittmacher erfinden, um die Welt zu verbessern. Aber jetzt geht das natürlich einfacher: Tu einfach das, was ein deutscher Bestsellerautor dir sagt. Auch wenn es dich das letzte Hemd kostet, wenn die Sache Erfolg hat.

Die restlichen Seiten des Buches in Kürze:

  • eine Leerseite
  • eine Seite, auf der ein QR-Code mit Link zur Online-Petition ist
  • eine Seite mit Danksagungen und dem Hinweis, dass der Autor seine Einkünfte aus dem Buch dem Verein spendet, der für Einführung dieser Grundrechte eintritt
  • eine Seite, auf der Schirach seine Familiengeschichte kurz erklärt und sich noch mal als Streiter für die Würde des Menschen darstellt
  • eine Seite mit einer dreizeiligen Kurzbiografie des Autors
  • eine Seite mit einer kurzen Inhaltsangabe „Über dieses Buch“, was eigentlich außen auf die Rückseite des Buches gehört hätte, denn Leuten am Ende eines Buches, das sie bereits gelesen haben, zu erklären, worum es eigentlich im Buch geht, ist schwachsinnig
  • das Impressum

Was habe ich aus dem Buch gelernt? Dass Schirach offenbar glaubt, wir hätten die heutigen Rechte nur, weil irgendwann mal Leute mit großem Tamtam utopische Erklärungen veröffentlicht haben, welches unsere Menschenrechte sein sollten. Nun waren es aber nicht die USA mit ihrer Unabhängigkeitserklärung, die etwa die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei vorangetrieben haben. Es war auch nicht Frankreich, wo die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 veröffentlicht wurde. Es waren die Briten, die schließlich sogar ihr eigenes Militär einsetzten, um Sklavenhandel zwischen den Kontinenten zu unterbinden und Staaten unter Druck zu setzen, die Sklaverei selbst zu ächten. Natürlich haben auch die britischen Abolitionisten sich an den Idealen orientiert, die in den besagten Erklärungen zum Ausdruck kommen, aber diese Erklärungen waren nicht der Ausgangspunkt der Bewegung für die Menschenrechte, sondern ein Produkt derselben. Jetzt also aufgrund von irgendwelchen Schlagworten, die der Autor für besonders bedrohlich hält, neue Grundrechte auf den Tisch zu knallen und zu erwarten, dass man gefälligst dafür eintritt und dann nach und nach erst ausarbeitet, was die Grundrechte konkret bedeuten sollen, ist der Versuch, den Karren vors Pferd zu spannen. Es macht natürlich auch nicht den besten Eindruck, wenn Schirach die Sache wichtig genug ist, um ein Buch darüber rauszubringen, aber offenbar nicht wichtig genug, um auch ein richtiges Buch zu schreiben.

Der KW-Leser, der mir den Band spendierte (ich weiß nicht, wie viele Neger er dafür verkaufen musste), legte ein kleines Haiku bei:

Schirach schreibt ein Buch
Ein Blogpost hätte gereicht
Verdammtes Neuland

Schöner kann man es kaum sagen. Mein Text hier ist länger als das Büchlein. Und mich wurmt der Gedanke, dass ich vielleicht mehr über diese sechs vorgeschlagenen Grundrechtsartikel nachgedacht habe als der Verfasser selbst.

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