Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch
Artikel 4 – Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.
Wie sollen die denn Amtsträger werden, wenn sie die Wahrheit sagen müssen?
Natürlich ist es wünschenswert, von den Amtsträgern nicht von vorn bis hinten beschissen zu werden, aber im Zweifelsfall können sie sich einfach nicht erinnern. (Und wenn sie wegen etwas angeklagt werden, dürfen sie sowieso lügen, wie jeder Angeklagte.)
Aber wie ein Blick auf die Website verrät, geht’s gar nicht zwingend um konkrete Aussagen, die mit der Amtsführung im Zusammenhang stehen.
Artikel 4 zwingt Amtsträgerinnen und Amtsträger dazu, nichts Unwahres zu sagen. Bislang dürfen sie das tun, also zum Beispiel den Klimawandel leugnen oder behaupten, irgendwelche „Kräfte“ wollten Europas Bevölkerung austauschen.
Es gibt Islamisten, die ziemlich offen zugeben, dass sie die Mehrheit erlangen wollen, um hier die Scharia einzuführen. Erdogan erzählt, die Türken in Deutschland sollen sich nicht assimilieren, sondern je Familie fünf Kinder kriegen, und türkische und arabische Jugendliche frohlocken schon in Berliner Schulen, dass die Kartoffeln sich ihnen bald alle unterwerfen müssen, weil die dann in der Minderheit sind. In linken Kreisen wird (in letzter Zeit vermehrt) davon geredet, dass die Weißen aussterben bzw. durch Vermischung dezimiert werden sollen. Man kann gerne darüber diskutieren, ob das eine Gefahr oder überhaupt ein realistisches Szenario ist, aber die Behauptung, es wäre unwahr, dass es gewisse Kräfte gibt, die die Bevölkerung austauschen beziehungsweise fundamental umbauen wollen, dürfte damit selbst unwahr sein. Gut, dass Schirach kein Amtsträger ist.
Und ansonsten: Auch Amtsträger sollten die Freiheit haben, sich öffentlich durch das Erzählen offensichtlicher Unwahrheiten zu blamieren. Denen das zu verbieten, nur weil man es nicht ertragen kann, dass jemand den Klimawandel leugnet, scheint mir eher eine Behinderung der Möglichkeiten zu sein, sich über die wahren Absichten von Politikern zu informieren.
Artikel 5 – Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.
Wenn ihr Hippies dafür sorgt, dass es keine bezahlbare Schokolade mehr hier gibt, reiß ich euch den Kopf ab!
Artikel 6 – Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzung dieser Charta Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten erheben.
Offenbar war ich nicht der Einzige, der daraufhin sofort dachte: „Wenn Krethi und Plethi da klagen dürfen, wird das die Gerichte nicht furchtbar überlasten?“, wie ein Blick in die FAQ auf der Website verrät.
Der EuGH würde sicher mehr zu tun bekommen, überlastet würde er aber nicht: Denn direkt vor den EuGH gebracht werden könnten nur „systematische“ Verletzungen der Grundrechte, also zum Beispiel ein grundrechtswidriges Gesetz oder eine viele Menschen verletzende Regierungspraxis.
Überzeugt mich jetzt nicht, denn es muss ja trotzdem bei jeder einkommenden Klage noch geprüft werden, ob das nun eine „systematische“ Verletzung der Grundrechte ist oder ob man sie abweisen muss. Dass die Grundrechte so schwammig formuliert sind, macht die Entscheidung auch nicht leicht.
Selbst wenn das zu vielen Klagen führen würde, könnte man den EuGH schlicht besser ausstatten: Die Ausgaben des Gerichtshofs haben nur einen Anteil von 0,3 Prozent am Budget der EU für 2021.
Jurist Schirach fordert also mehr Steuergelder für Juristen. Warum auch nicht, wir haben’s ja, hauen wir die Kohle raus, bis Schirach einfällt, wie viel Anteil am EU-Budget denn angemessen wäre, ganz nach dem Motto „viel hilft viel“. Das Jahresbudget des EuGH beträgt übrigens um die 450 Millionen Euro. Macht pro Beschäftigten des Gerichtshofs über 200.000 Euro.
Zurück zum Buch.
Manche werden sagen, diese Rechte seien zu einfach, zu unpräzise, zu unausgereift, sie hätten keine gesetzlichen Verfahren durchlaufen, Experten seien nicht gehört worden, und nie hätte eine Kommission darüber entschieden.
Und alles davon stimmt.
Andere werden einwenden, man bräuchte überhaupt keine neuen Rechte, das alles gebe es bereits in Ansätzen, und man käme mit dem zurecht, was man schon habe.
Richtig. Schön, dass wir drüber geredet haben.
Nun, Ansätze sind nicht das Ganze, Einfachheit ist selten ein Nachteil, und juristischer Streit darüber, welche Wirkungen die neuen Rechte haben werden, ist notwendig und richtig.
Hm, „haben werden“, nicht „haben würden“. Da ist aber jemand sehr überzeugt, dass seine kleine Herzensidee auf jeden Fall in die Realität umgesetzt wird.
Diese Rechte sind eine Ergänzung unserer Grundrechte in Europa, keine Kritik an ihnen.
Das ist allerdings auch irrelevant, hat nämlich keiner behauptet.
Sie werden das Bestehende nicht zerstören, sondern es fördern, es deutlicher, verständlicher und zeitgemäßer machen.
Wenn man das Geschwafel für unpräzise hält, wie soll daraus dann etwas werden, was „deutlicher“ wäre?
Wie diese Rechte umgesetzt werden, kann noch offenbleiben – die Europäische Union selbst sieht Verfahren der Bürgerbeteiligung und die Einberufung eines Verfassungkonvents vor; das mag ein Weg sein, es sind andere denkbar.
Ist klar, ein Verfassungskonvent für sechs Artikel. Und wann ging Bürgerbeteiligung in der EU eigentlich mal so weit, dass ein grässliches Gesetz durch die Mitwirkung der Bürger in den Details weniger grässlich gemacht wurde?
Jetzt müssen wir grundlegende Fragen beantworten: Wie können wir den grundlegenden Herausforderungen unserer Zeit begegnen? Wie organisieren wir unsere Gesellschaft besser? Wir müssen heute erneut entscheiden, wer wir sein wollen.
Geht’s auch etwas kleiner? Mag ja sein, dass der Autor seine Vorschläge für Grundrechte echt superdufte findet, aber so wichtig für unsere Identität werden sie nicht sein. Die Formulierung erzeugt in mir sowieso ein leichtes Unwohlsein, denn von „Wir müssen das jetzt machen, und das entscheidet, wer wir sein wollen“ ist es nur ein kleiner Schritt zu „Wer nicht für uns ist, handelt unmoralisch und ist somit ein schlechter Mensch“.