Mein Leben mit 300 Kilogramm
Im vierten Monat ist es dann so weit: Da Penny die Anweisungen des Arztes ignoriert, darf sie nicht länger ein Krankenzimmer belegen und wird entlassen. Immerhin hat der Doktor die Hoffnung, dass der Tapetenwechsel bei Penny dafür sorgen könnte, dass sie sich endlich mal zusammenreißt. Fat chance. Fünf Leute wuchten sie schließlich auf ihre Liege in der kleinen Wohnung ihrer Familie, und es wird klar, wieso in den USA so viele Pfleger wegen Rückenproblemen ihre Jobs aufgeben müssen.
Kaum ist sie „daheim“ (sie kennt die Wohnung ja noch nicht), hat sie jedoch schon was zu meckern, weil ihr Bett in einer Nische steht und der Blick auf den Fernseher durch ein Sofa versperrt ist. Also muss Ed erst mal Möbel verrücken.
Ein Off-Kommentar von Penny erklärt ihre Geisteshaltung: Es gibt einfach zu viele Leute, die einem erzählen, was man machen soll, obwohl man doch selbst am besten weiß, was einem guttut. Mein Gefühl ist ja, dass der Gegenbeweis spätestens dann erbracht ist, wenn man wegen seiner futterinduzierten Schwabbeligkeit seinen Arsch nicht mehr aus dem Bett hieven kann und zwei weniger fette Menschen im Orbit um einen kreisen.
Ab dem fünften Monat soll ein Physiotherapeut mit Penny Gehübungen machen, um ihr bei ihrem Weg zur Gesundheit zu helfen. Man kann nicht sagen, dass er zu ambitioniert wäre: Das Ziel für den ersten Tag ist, dass Penny auf der Bettkante sitzen kann. Schon bei leichten Fußübungen zieht die Frau allerdings ein Gesicht, als wenn sie King Kong gebären müsste. Sich mal auf die Seite zu legen, geht schon gleich mal gar nicht, weil ja dann ihre Sauerstoffzufuhr beeinträchtigt werden könnte.
Der sechste Monat: Penny steht nicht, Penny geht nicht. Auch nicht zu ihren Arztterminen bei Doktor Now. Dafür macht sie im Bett Hackbraten und erklärt uns: „Man braucht nach einem Eingriff keine Vorgaben. Ich habe meine Ernährung selbst im Griff. Ich kann Kalorien berechnen und den richtigen Fettanteil. Selbst ist die Frau!“ Und dann beschwert sie sich auch noch: „Eine richtige Diät ist mir in der Klinik nicht verabreicht worden!“ Offenbar hat sie die Schonkost vergessen, gegen die sie rebellierte. Drei von vier ihrer Aussagen sind also Lügen, und ich habe Schwierigkeiten, ihr die Sache mit dem Berechnen dann auch noch zu glauben.
Während die Hackbraten gerade aus dem Ofen kommen, quengelt die Ernährungsexpertin dann, weil sie Hunger hat und sooo unterzuckert wäre.
Das setzt sich fort: Nach Meinung des Arztes sollte sie viel Proteine und wenig Kohlenhydrate vertilgen, aber sie weiß natürlich selbst am besten, was gut für sie ist. Sie weiß auch, was schlecht für sie ist, zum Beispiel Wan Tan (chinesische Teigtaschen), aber sie macht trotzdem welche im Bett. Wäre immerhin besser als zu verhungern, meint sie. Und ihr Mann stimmt ihr halbwegs zu: Was Selbstfrittiertes wäre ja wohl besser als etwas vom Lieferservice. Genau, sind ja ihre einzigen Möglichkeiten.
Spätestens jetzt würde ich explodieren. Die Familie ist über 2000 Kilometer weit weg gezogen und hat Geld von Verwandten und Freunden genommen, damit Penny etwas ändert und ihr Sohn nicht zur Halbwaise wird. Und was macht sie? Sie ignoriert ihren Arzt und jede Vernunft und frisst einfach wie zuvor. Da kann sie nicht mal mehr alles auf ihre schwere Kindheit schieben, denn ihre Schwestern hatten die gleiche Kindheit. (Eine ihrer Schwestern wog wohl auch mal über 200 Kilo, aber hat ihr Leben erfolgreich umgestellt.) Selbst ein Psychotherapeut könnte ihr ja nicht helfen, solange sie selbst nicht wirklich etwas ändern will. Ich kann ja nachvollziehen, wenn man mit 20 oder 30 Kilo zu viel denkt: „Ach, geht ja noch“, aber wenn man nicht mal mehr aufs Klo gehen kann, winkt Mutter Natur mit einem ganzen Zaun, dass es nun wirklich ernst ist.
Auch im 7. Monat hat Penny sämtliche Termine bei Doktor Nowzaradan verstreichen lassen, weshalb der Mediziner mal anruft und sich nach dem Zustand seiner (Ex-)Patientin erkundigt. Eigenartig: Es geht Penny gar nicht gut, weswegen sie einem zweiten Klinikaufenthalt zustimmt. Prompt wird ein Schwertransport organisiert. Auf dem Weg ins Krankenhaus schätzt sie aber mal großzügig, dass sie sicherlich in der Zwischenzeit 150 Kilogramm abgenommen hat.
Nicht ganz. Sie hat anderthalb Kilo seit dem letzten Wiegen zugenommen. Weinend hat Penny allerdings eine plausible Erklärung: Die Waage hat beim vorherigen Wiegen einfach nicht gestimmt! Schließlich hat sie ja alles gegeben, um Gewicht zu verlieren. Und überhaupt: Ihre Haut schlabbert ja so, und ihre Mu kann sie auch wieder alleine waschen! Das ist ja wohl eindeutig!
Ihr Mann versucht, ihr gut zuzureden, während sie sich fragt, warum der gute Doktor sie so drängt. (Ich schätze, weil die Frau nicht mehr so viel Zeit hat, ihr Leben zu ändern, weil sie nämlich sonst bald keins mehr hat, aber was weiß ich schon.) Ed bestärkt Penny noch in dem Glauben, dass sie ja eigentlich nicht viel essen würde. Der Doktor macht in Ed Pennys zweitschlimmsten Feind aus, Endgegner ist allerdings sie selbst. Und er denkt an Patienten, bei denen es genauso war und deren Totenscheine er schließlich unterschreiben musste. Penny verlässt am nächsten Tag die Klinik wieder.
Immerhin scheint es im Nachhinein geholfen zu haben, dass Doktor Now ihr so den Kopf gewaschen hat, denn im neunten Monat nimmt Penny tatsächlich eher Gemüse und gegrilltes Hähnchenfleisch zu sich. Sie möchte in zwei Monaten bei Liams Kindergarten-Abschlussfeier dabei sein und kooperiert inzwischen sogar mit ihrem Physiotherapeuten. (In weiteren Nachrichten: Offenbar gibt es inzwischen Kindergarten-Abschlussfeiern.)
Bis dahin dauert es jedoch noch etwas, und Penny muss ihrem Sohn erklären, dass sie ihr Versprechen, mit ihm mal draußen zu spielen, in der nächsten Zeit nicht einhalten kann. Aber sie redet sich die Situation für sich und Liam schön: Schließlich wäre sie immerhin für ihn da, ganz anders als eine berufstätige Mutter. Und er könne später nicht sagen, dass sie nicht für ihn dagewesen wäre. (Nun ja, mal vorausgesetzt, sie stirbt nicht einfach.)
Am Tag von Liams letztem Tag im Kindergarten kann Penny immer noch nicht gehen, also fällt auch ihr Vorhaben flach, bei der Abschlussfeier dabei zu sein. Was Penny dabei besonders trifft: Liam reagiert inzwischen auch nur noch gleichgültig, wenn seine Mama mal wieder so ein Versprechen gebrochen hat.