Volksaufklärung
Mit entsetzter Verblüffung berichtete ein großes deutsches Nachrichtenmagazin vor einiger Zeit, dass 20 Prozent der Deutschen glauben, dass nicht alles schlecht im Dritten Reich war. Ich war eher entsetzt, dass 80 Prozent der Meinung sind, im Dritten Reich wäre alles scheiße gewesen. Man stelle sich vor: Alles ist schlecht, der Briefträger kackt dauernd in den Hauseingang, es gibt mittags nur Rosenkohl, aber nie Nachtisch, man muss täglich die Fußnägel vom Gauleiter abknabbern und die Schwiegermutter ist immer zu Besuch – wie soll man da noch an den Führer glauben, sein Regime mittragen und in Polen einmarschieren? (Dass man in Frankreich einmarschieren möchte, kann ich hingegen in jeder Situation nachvollziehen.) Die Nazis haben immer versucht, es sich mit der großen Masse der Bevölkerung nicht zu verderben und sie von Problemen abzulenken, allein schon deswegen muss es Dinge geben, die so schlecht nicht waren und deswegen teilweise auch nach dem Zweiten Weltkrieg gerne beibehalten wurden. (Wenn ihr weiterlest, stellt euch ruhig die Szene aus Monty Pythons "Leben des Brian" vor, wo aufgezählt wird, was die Römer je für uns getan haben.)
Und daher frage ich mich, ob sich die oben erwähnten 80 Prozent nicht auch am 1. Mai noch mal wohlig im Bett herumdrehen, einen warmen Pups absondern und sich freuen, dass sie am Tag der Arbeit nicht zur selbigen müssen, obwohl der 1. Mai erst von den Nazis zum arbeitsfreien Tag ernannt wurde, um die Abschaffung der Gewerkschaften zu versüßen. Oder nehmen wir den VW Käfer. Eines Tages sagte der Adolf zu Ferdinand Porsche: "Bau mir ein Auto, was sich jeder Volksgenosse leisten kann!", und daraus entstand ein Kultfahrzeug, welches nach dem Krieg zum Symbol des bundesdeutschen Wirtschaftswunders wurde und den Grundstein für einen der größten Automobilkonzerne der Welt legte. Wir hatten zwar später noch einen Autokanzler, aber da kam nur der VW Phaeton heraus, und den konnten sich normale Menschen nicht leisten, während reiche Menschen lieber bei Mercedes, BMW und Bentley blieben. Neben dem Volkswagen gab es auch den Volksempfänger, ein Radio, was auf Geheiß der Nazi-Regierung zu einem Spottpreis angeboten werden musste. Heute kümmert sich unsere Regierung wenig darum, ob die Bürger billigen Zugang zu modernen Medien haben, deswegen ist irgendwann die BILD-Zeitung in die Bresche gesprungen, die jetzt auch nicht so viel besser als der Goebbels ist. Gelegentlich blitzt in den Maßnahmen der Nationalsozialisten die Ironie der Geschichte hervor: Die rechtliche Gleichstellung von ehelichen und unehelichen Kindern war beispielsweise eine liberale Idee, die in der konservativen Weimarer Republik keine parlamentarische Mehrheit fand, aber im Dritten Reich ohne große Diskussionen durchgedrückt wurde (wohl auch weil diverse Mitglieder der Führungsriege so einige kleine Germanen zeugten, ohne mit den Kindesmüttern eheliche Bindungen zu pflegen). Ebenfalls eine kleine juristische Fußnote ist die bis heute im Strafgesetzbuch festgeschriebene Unterscheidung zwischen "Mördern" und "Totschlägern"*, deren Kriterien unter den Nazis formuliert wurden und allem Anschein nach wohl trotz ihres Ursprungs nicht als schlecht angesehen werden. Sonst wäre das schließlich schon längst geändert worden, nicht wahr? Nicht zuletzt muss man auch zugestehen, dass die Uniformmode im Dritten Reich ästhetische Höhen erreicht hat, von denen der normale Bundeswehrsoldat mit seinem hässlichen Sakko nur träumen kann, wenn er seinen großen Zapfen streichelt. Und weil das unbedingt noch rein muss: die Autobahnen.
Aber, so hört man allenthalben, alles, was die Nazis gemacht haben, ist schon deshalb schlecht, weil sie dabei üble Absichten hatten. (Als ich das zuletzt von Thomas Kausch im ZDF gehört hab, wäre ich vor Lachen beinahe vom Bett gefallen.) Nehmen wir etwa Eva Hermans Lieblingsthema, die Familie und die Frau als Muttertier. Das Dritte Reich gab sich mittels Propaganda, Erziehung, Auszeichnungen und sonstigen Karnickelprämien alle Mühe, die Frauen fruchtbar und gebärfreudig zu machen. Die Bundesrepublik dagegen gibt sich alle Mühe, die Frauen mittels Kindergeld, Elterngeld, steuerlichen Vorteilen für Eltern und sonstigen Karnickelprämien fruchtbar und gebärfreudig zu machen (und ist damit ebenso erfolglos wie die Nazis damals). Der Adolf wollte mit dem Nachwuchs Lebensraum im Osten erobern und besiedeln, der heutige Nachwuchs soll später mal die Rente der alten Zausel bezahlen. So richtig ehrenvoll finde ich beide Ziele nicht. Generell traue ich keinem Politiker zu, Entscheidungen nur zum Wohle des Volkes zu treffen, ohne Hintergedanken zu hegen, egal ob sie demokratisch gewählt wurden oder der Wähler nur die Wahl zwischen Kreuz beim Führer oder Schlägen im KZ hatte. Daher sollte man nicht die Hintergedanken bewerten, sondern die direkten Auswirkungen der Entscheidungen. Die nationalsozialistische Familienpolitik war nicht scheiße, weil die Nazis viel Nachwuchs haben wollten. Die nationalsozialistische Familienpolitik war scheiße, weil sie gar nicht auf eine funktionierende Familie abzielte, da die Kinder nicht von den Eltern erzogen, sondern in der Hitlerjugend zu kulturlosen Barbaren verzogen werden sollten, und zwar ohne wesentliche Einflüsse der Eltern.
Ich weiß nicht, ob die 80 Prozent wirklich glauben, dass alles im Dritten Reich schlecht war. Vielleicht ist das alles nur ein überschäumender Versuch, sich möglichst weit von der Nazizeit zu distanzieren, um nur ja nicht in den Verdacht zu geraten, selbst rechts zu sein. Oder aber sie denken nicht weit genug, um zu erkennen, dass das Dritte Reich nicht funktioniert hätte, wenn wirklich alles schlecht gewesen wäre. Egal woran es liegt: Ich finde es gefährlich. Denn eine einseitige Sichtweise auf das schwärzeste Kapitel unserer Geschichte sorgt dafür, dass man vergisst, wie Diktaturen funktionieren und sich äußerlich mit gar nicht üblen Maßnahmen einen Rückhalt in der Bevölkerung aufbauen, während im Hintergrund die größten Verbrechen ablaufen und die Freiheiten nach und nach demontiert werden. Und wenn man das vergisst, vermag man selbst nicht mehr festzustellen, ob nicht auch die eigene Gesellschaft allmählich in diese Richtung abdriftet. Vielleicht beginnt es ja auch wie damals mit Politikern, die die Angst der Bürger vor Anschlägen schüren, und mit Gesetzen, die angeblich nur der Sicherheit des deutschen Volkes dienen. Seid wachsam.
* In den früher an dieser Stelle geltenden Paragraphen hatte man sich übrigens noch verkniffen, die Täter als Mörder und Totschläger zu bezeichnen.