Normgedanken
Nuff! Ich grüße das Volk.
Es passiert immer mal wieder, dass ich im Internet in irgendwelche Diskussionen über Politik und/oder Gesellschaft hineingerate, die sich dann sehr lange hinziehen, weil sich so viele Leute standhaft weigern, öffentlich zuzugeben, dass ich recht habe, auch wenn die Beweise erdrückend sind.
Oft genug endet das dann damit, dass die andere Seite einen Nervenzusammenbruch kriegt, mit den weinerlichen Worten „Solche Meinungen muss ich mir nicht geben!“ nach dem Riechsalz greifen muss und die Sache abrupt beendet wird. Noch öfter passiert es allerdings, dass die andere Person mich als Idiot bezeichnet oder mich mit einem Kriminellen gleichsetzt und mich dann blockt, damit ich auf die Schmähung meiner Person nicht mehr reagieren kann. Daran hab ich mich schon gewöhnt.
Letztens ist das wieder passiert. Was mich da überraschte, war eigentlich nur der Punkt, der bei der anderen Person offenbar das Fass zum Überlaufen brachte. Im Zuge des vorher erörterten Themas sprach ich davon, dass man, wenn man eine gesellschaftliche Norm ändern will, auch die Bedürfnisse der Mehrheit beachten muss, sonst wird diese keinen Anreiz haben, die Änderung zu übernehmen. (Dann wird’s halt aber auch keine Norm.) Die andere Person entgegnete allerdings, dass sie die Norm gar nicht ändern will, sondern abschaffen, denn Normen wären nur schlecht, würden Leute, die nicht in die Norm passen, ausgrenzen und somit quasi menschenfeindlich sein. Daher sollte jede Norm beseitigt werden. (Ich muss hier paraphrasieren, weil ich natürlich geblockt wurde und die Beiträge nicht mehr lesen kann.)
Das ist eine Ansicht, bei der ich nicht vermutet hätte, dass ein erwachsener Mensch sie ernsthaft vertreten kann. Ich hatte einen kleinen gedanklichen Bluescreen of Death, als ich das las, weil ich nicht fassen konnte, dass man so einen Unfug ernsthaft schreiben kann. Normen entstehen automatisch, wenn Menschen zusammenleben und als Gemeinschaft agieren, denn damit dieses Zusammenleben funktioniert, wird man ganz selbstverständlich ein Gerüst schaffen, welches jedem Mitglied der Gemeinschaft Orientierung gibt, was die Gemeinschaft von ihm erwartet und was es wiederum von jedem anderen Mitglied der Gemeinschaft erwarten kann. Nicht mal eine Zweier-WG wird ohne eine Norm auskommen, auch wenn sie aus Selbstverständlichkeiten wie „Nicht ohne Erlaubnis des anderen in sein Zimmer gehen“ oder Absprachen wie „Die Cornflakes kommen ins zweite Fach von oben im Küchenregal“ oder „Jeder kriegt die Hälfte der Ablagefläche im Badezimmerschrank“ besteht, natürlich zusätzlich zu den grundlegenden Normen, die man schon als Kind verinnerlicht hat, wie „Sich gegenseitig weder grundlos anschreien noch ins Gesicht pissen“ oder „Ins Klo kacken und nicht auf den Teppich“.
Schon die frühesten Gesetze sind aus Normen der Gemeinschaft entstanden. Darauf habe ich während der Diskussion subtil hinzuweisen versucht, als ich schrieb, dass die Ablehnung von Raub, Erpressung und Gewalt ebenfalls zur Norm gehört und dabei natürlich Räuber, Erpresser und Gewalttäter ausgegrenzt werden. Das war dann der Punkt, bei dem die Diskussion so rüde von der anderen Seite beendet wurde. Ich frage mich, ob sie glaubt, dass Gesetze tatsächlich vom lieben Gott auf Steintafeln vom Himmel herabgeschickt wurden.
Natürlich kann und sollte man bei jeder Norm überlegen, ob sie bestimmte Mitglieder der Gemeinschaft nicht unfair beeinträchtigt und ob man für diese Mitglieder die Normen daher anpassen sollte. Wenn die oben erwähnte WG einen dritten Mitbewohner kriegt, der zufällig kleinwüchsig ist, wird natürlich zu überlegen sein, ob die Cornflakes nicht ein Regalbrett tiefer stehen können und dass es fair wäre, den Badezimmerschrank neu aufzuteilen. Aber dass es eine Norm geben muss und man sich das nicht mal aussuchen kann, wenn man ohne Krach zusammenleben will, das sollte klar sein. Ist es aber offenbar nicht.
Und ich stelle mir – wie so oft – die Frage: Warum sind gerade viele selbst ernannte Streiter für soziale Gerechtigkeit so unwissend, was solche Dinge angeht? Wie kann man eine Welt verbessern wollen, wenn man nicht mal kapiert, wieso die Welt so geworden ist, wie sie ist? Das Geschichtswissen bei ihnen scheint oft ebenso kümmerlich und lückenhaft zu sein wie das Verständnis der menschlichen Psyche, gerade wenn es um die Psychologie der Massen geht. Man hat manchmal das Gefühl, wenn irgendwo ein Missstand auftritt, akzeptieren sie als Erklärung „Patriarchat“, „Rassismus“, „Faschismus“ oder einen anderen –ismus und denken dann nicht weiter darüber nach. Aber das sind keine echten Erklärungen, wieso Menschen handeln oder eben nicht handeln und welche ihrer Bedürfnisse so durch die aktuellen Verhältnisse befriedigt werden und für eine gewisse Stabilität dieser Verhältnisse sorgen. Gerade in den westlichen Ländern sind viele Ungerechtigkeiten oder auch nur Benachteiligungen auch nicht auf böse Absicht zurückzuführen, sondern eher auf Unachtsamkeit. Mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und zu sagen: „Der macht XYZ, weil er bestimmt ein Nazi/Vergewaltiger/Rassist ist oder deren Denkweisen verinnerlicht hat“, erklärt genau gar nichts.
Aber es ist nicht allein die Tatsache, dass so viele Möchtegern-Weltverbesserer nicht wissen, wie die Welt funktioniert: Sie haben auch keinen blassen Dunst, wie denn eigentlich ihre Verbesserung konkret aussehen soll. Mehr als vage Vorstellungen gibt es meist nicht, und oft werden selbst diese nicht von einer Vision getrieben, wie die Welt sein sollte, sondern dem Wunsch, dass irgendetwas eben nicht sein sollte. Das ist kein neues Problem: Karl Marx ist auch nie dazu gekommen zu erklären, wie Kommunismus denn jetzt genau funktionieren soll (vermutlich wusste er es selbst nicht), und viele Utopien kranken daran, dass sie von einem idealisierten Menschenbild ausgehen, welches frei von jeglichem Neid, Egoismus, Trieb, Konkurrenz- und Gruppendenken ist. Das ist ganz knuffig in der Vorstellung, aber man sollte nicht erwarten, ein funktionierendes Gesellschaftssystem auf dieser Basis aufzubauen, weil die Menschen nun mal nicht so sind und sich in den nächsten 200 Jahren auch nicht alles abgewöhnen werden, was sie seit Hunderttausenden Jahren der Evolution mit sich herumschleppen. Und man wird sie auch nicht dazu erziehen können, indem man ihnen Erwartungen aufdrückt, die sie gar nicht erfüllen können, und sie dafür bestraft, dass sie sie nicht erfüllen können. Das führt nicht dazu, dass sie sich bessern, sondern dazu, dass sie das hassen, was sie so umprogrammieren will.
Wir haben also Weltverbesserer, die etwas einreißen wollen, ohne wirklich zu wissen, was an diese Stelle kommen soll, und in ihrer Ablehnung oft nicht mal daran denken, dass das, was sie einreißen wollen, auch positive Auswirkungen hat (deswegen hält es sich ja so hartnäckig), die irgendwie beibehalten werden sollten, um den Zusammenhalt und das Funktionieren der Gemeinschaft zu gewährleisten. Ironischerweise trifft das nicht nur auf die Weltverbesserer auf der linken Seite des politischen Spektrums zu, sondern auch auf die Aktivisten der Alt-Right wie Trump. Der war offensichtlich vor seiner Präsidentschaft auch eher so ein Stammtisch-Diktator, der sich in wildesten Fantasien ergab, was alles anders laufen müsste als bisher, und dann nach seiner Ernennung zumindest in Ansätzen merken musste, dass das alles ein Kartenhaus ist, bei dem man sehr aufpassen muss, welche Karte man wegnehmen kann, wenn man nicht das ganze Gebilde in sich zusammenkrachen lassen will.
Das war jetzt wieder ein relativ langer Gedankenstrom, weil ich das einfach mal aufschreiben wollte. Danke für eure Aufmerksamkeit, ihr könnt jetzt wieder Plätzchen backen oder Glühwein zubereiten. Bis dann!
Premiummitglied
Schöner Text!
Ich finde er eignet sich hervorragend dafür in gigantischen Lettern über Universitätsportalen angebracht zu werden.