Im Fegefeuer der Kleinigkeiten
Wenn man allerdings denkt, dass viele Leute überreagieren, wenn sie sich mit Krempel beschäftigen, der sie gar nicht betrifft, dann geht einem spätestens dann das Vokabular aus, wenn sie damit klarkommen müssen, dass jemand ihnen widerspricht oder eine andere Meinung vertritt.
Das Problem ist derzeit besonders an US-amerikanischen Universitäten verbreitet, aber auch im Vereinigten Königreich metastasiert es fröhlich vor sich hin. Dort sind die Studenten schon so zarte Pflänzchen, dass bei öffentlichen Veranstaltungen darum gebeten wird, nicht zu klatschen, weil sensible Seelen im Publikum dadurch „getriggert“ werden könnten. Stattdessen soll man „Jazz Hands“ benutzen. Wer Jazz Hands nicht kennt: Stellt euch vor, ihr bittet ein zehnjähriges Kind, euch nur mit den Händen zu zeigen, wie alt es ist. Das sind Jazz Hands.
Ein weiteres Beispiel für die allgemeine Mimosenhaftigkeit im akademischen Umfeld ist die Obsession mit Mikroaggressionen, weil nichts popelig genug ist, um nicht als Angriff auf irgendwen verstanden zu werden. Die University of California hat ein hilfreiches Dokument veröffentlicht, in dem Beispiele von Mikroaggressionen genannt werden, damit man diese leichter erkennen und sich darüber aufregen kann. Eine Mikroaggression ist es demnach schon, wenn man sagt: „Ich finde, die qualifizierteste Person sollte den Posten kriegen“, weil das angeblich Schwarze (sorry, People of Color) und Frauen diskriminieren würde. Ganz besonders gefällt mir aber die Nennung der Aussage: „Es gibt nur eine Rasse, die menschliche Rasse“, die ja immerhin in Deutschland offizielle Doktrin zu sein scheint. Wie sich herausstellt, ist das aber auch nur ein ganz mieses Aggressionsverhalten, weil Minderheiten in die dominierende Kultur assimiliert und ihre persönlichen Erfahrungen negiert werden würden. Man stelle sich mal vor, ein schwarzer Menschenrechtler aus den USA käme in eine deutsche Studentengruppe, würde da hören, dass es keine Rassen gibt, und den Anwesenden erst mal gehörig den Marsch blasen, weil die ihm einfach seine Identität absprechen. Ich glaube, ich würde glatt einen Zehner zahlen, um das zu sehen.
Ganz schlimm waren aber einige Veranstaltungen an amerikanischen Universitäten, an denen die renommierte Feministin Christina Hoff Sommers sprechen sollte. Unter anderem kritisierte sie die oft zitierte Studie, wonach angeblich 20 Prozent aller US-Studentinnen im Laufe ihres Studiums sexuelle Übergriffe erleben. Mal ganz davon abgesehen, dass die Fragen tatsächlich schlecht formuliert waren, die Antwortquote der Befragten mies war, viele der als betroffen eingestuften Studentinnen der Studie sich selbst gar nicht als Opfer von sexueller Gewalt fühlten und es generell zweifelhaft ist, dass eine US-Universität für Frauen so gefährlich sein soll wie ein Leben in Zentralafrika, ist eine sachliche Kritik an einer Studie wissenschaftlicher Alltag, sollte also gerade an einer Universität unproblematisch sein.
Stattdessen ist die Studentenschaft am Oberlin-College auf die Barrikaden gegangen, beschuldigte sie, Vergewaltiger zu unterstützen, definierte ihre bloße Anwesenheit als Gewalt und behauptete, Sommers‘ Vortrag wäre ein Versuch, sie zum Schweigen zu bringen, obwohl die Frau gerade deswegen da war, um eine Debatte einzuleiten. Die Studenten richteten sogar einen Raum als „Safe Space“ ein, damit sich arme, getriggerte Opfer des Vortrags wieder beruhigen konnten. (Die Vortragende triggerte offenbar 35 Studenten und einen Hund.)
Wie dieser spezielle Raum eingerichtet war, wurde leider nicht berichtet, an der ebenfalls mit einem Safe Space ausgestatteten Brown University gehörten jedoch weiche Decken, Play-Doh-Knete, Hundebaby-Videos und beruhigende Musik zur Einrichtung – was die Infantilität des studentischen Verhaltens durchaus treffender beschreibt als jede Bemerkung meinerseits. Die Ironie an der Sache: Die Polizei fürchtete eher, dass Frau Sommers Opfer von Gewalt werden könnte, und eskortierte sie auf dem Universitätsgelände. Die Frau selbst fühlte sich gar nicht bedroht, fand den ganzen Krach aber auch nur lächerlich.
Andere Akademiker beiderlei Geschlechts haben in jüngster Zeit immer häufiger Beschwerden ihrer Studenten wegen angeblicher rassistischer oder sexistischer Inhalte zu befürchten, und das nur, weil man im Studium etwas erfahren könnte, was den eigenen Überzeugungen widerspricht. In den USA, in denen den Universitäten inzwischen per Gesetz vorgeschrieben wird, radikal gegen sexuelle Diskriminierung vorzugehen, sind Dozentinnen und Dozenten wegen angeblicher Verstöße gegen dieses Gesetz angezeigt worden, weil sie in Aufsätzen dafür plädierten, sich nicht so schnell von abweichenden Meinungen persönlich angegriffen zu fühlen. Aber auch in Deutschland müssen sich Dozenten vor dem Terror einiger Studenten fürchten, die eine Schnappatmung kriegen, sobald in den Veranstaltungen etwas vorkommen könnte, was den persönlichen Wertekanon entweiht oder von unerwünschten Urhebern stammt.
An der Berliner Humboldt-Universität (an der ich selbst mal studierte) probten im letzten Jahr Erstsemester in einer Einführungsvorlesung der Erziehungswissenschaften den Aufstand, weil sie Texte von Platon, Kant und Rousseau lesen sollten, die ihrer Meinung nach sexistisch und rassistisch sein sollten. Das Argument des Professors, dass man sich schließlich mit der Geschichte auseinandersetzen müsse, um sie zu verstehen, verendete fruchtlos irgendwo in den Synapsen der Studenten, und als sie die Veranstaltung durch Pfeifen und Brüllen dauerhaft störten, musste sogar die Polizei anrücken, um sie aus dem akademischen Umfeld zu entfernen, für das diese Exemplare aus dem Nichtschwimmerbereich des Genpools ganz offensichtlich nicht geeignet waren. Und derzeit gibt’s in den Sozialwissenschaften der HU auch keine Ruhe, weil sich ein Häufchen von Studenten darüber aufregt, dass die Autoren des universitären Lesestoffs vornehmlich männlich und weiß sind (Ts, was soll denn diese Verurteilung aufgrund von Geschlecht und Hautfarbe, hä? Sexistisches Rassistenpack! ), natürlich ohne Namen von nichtweißen und nichtmännlichen Autoren zu nennen, deren Werke zum Lehrplan passen würden und angemessen wären. Ist ja viel einfacher, sich an Oberflächlichkeiten aufzureiben und so zu tun, als würde man einen Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit führen anstatt gegen das eigene Resthirn.
Diese extreme Allergie dagegen, dass man etwas hören könnte, was den eigenen Ansichten widerspricht, erinnert mich tatsächlich eher an das Verhalten von kleinen Kindern, die sich lieber Finger in die Ohren stecken und laut „Lalala!“ schreien, weil sie nicht hören wollen, dass sie ihr Zimmer aufräumen sollen. Und während wir bei Kindern noch mit den Augen rollen und uns mehr oder weniger mühevoll verkneifen, denen ordentlich eins hinter die Löffel zu geben, verlangen viele bei Erwachsenen einfach, dass man vorbehaltlos alles aus ihrem Munde als absolute Wahrheit akzeptieren solle, gerade wenn die Person zu einer Opfergruppe gehört (bzw. so tut). Und das ist Bullshit. Verständnis für andere entsteht nicht dadurch, dass man die eigenen Fragen, die in einem bohren, einfach ignoriert, nur weil die Tatsache, dass man die Fragen stellt, von einigen Leuten als Angriff auf die eigene Haltung begriffen wird. Wenn man eine Überzeugung hat, sollte man sowieso auch bereit sein, sie zu verteidigen oder sich anderweitig überzeugen zu lassen, anstatt einfach jedem Widerspruch auszuweichen.
Ich finde es auch ein bisschen erschreckend, dass es tatsächlich Tools im Netz gibt, die Facebook-Freundschaften und Twitter-Verbindungen durchgehen und alle Treffer anzeigen, die selbst eine Verbindung zu irgendeinem unerwünschten Account haben, damit man sie schnurstracks entfolgen oder sperren kann. Wie furchtbar muss eine eventuell abweichende Meinung sein, dass man lieber seine eigene kleine Filterblase von der entfernten Möglichkeit befreit, damit konfrontiert zu werden, selbst wenn das vielleicht heißt, jahrelange Freundschaften mit Leuten aufzukündigen, mit denen man sonst immer prima zurechtkam? (Zudem kann man jemanden im Netz auch abonnieren, ohne seiner Meinung zu sein, einfach nur weil man erfahren will, was die andere Seite denkt.)
Ich will mir gar nicht vorstellen, was für eine Welt all diese Menschen haben wollen, in der alle Leute nur Kleidung tragen dürfen, die weder körperbetont noch anderweitig kontrovers sein könnte, in der nur noch Dinge gesagt werden dürfen, die andere Menschen weder korrigieren noch in ihren Ansichten verletzen könnten, und in der man selbst in den eigenen vier Wänden nur noch Medien konsumieren darf, die vor lauter politischer Korrektheit nur noch materialisierte Langeweile darstellen. Selbst Humor funktioniert nicht so richtig, wenn er niemanden überraschen oder hinterfragen, keine Tabus verletzen oder nicht aufregen darf. (Irgendwann wird diese Erkenntnis vielleicht auch in den Komik-Abteilungen der ARD-Anstalten ankommen.) Und nicht zuletzt wird so auch der Fortschritt an sich getötet, denn wie sollen sich neue Ideen verbreiten, wenn nur das gesagt werden darf, was jeder sowieso schon denken soll?
Vor noch gar nicht so langer Zeit gingen Leute auch in Mitteleuropa auf die Straße, um dafür zu kämpfen, ihre Meinung frei zu äußern. Heutzutage erlaubt uns die Regierung zwar, fast alles zu sagen, was uns durch den Kopf geht – in erster Linie, weil der Regierung zwischen den Wahlen sowieso ziemlich egal ist, was das Volk sagt – stattdessen haben wir aber nun eine Tyrannei der lautesten Meinungsmacher, die dank der neuen Medien und deren Möglichkeit zum Nachrichten-Dauerfeuer die Illusion einer Massenbewegung aufbauen kann, der man sich als Abweichler besser zu beugen hat, will man ernste Konsequenzen vermeiden. Und weil sich viele der Meinungsmacher gezielt einer Opferperspektive bemächtigen, übt sich die tatsächliche Mehrheit der Bevölkerung in Zurückhaltung und lässt sie gewähren, weil man nun mal auf Opfer nicht weiter eintreten soll. Noch schlimmer: Viele unterstützen sie mehr oder weniger still, weil Andersdenkende so dämonisiert werden, dass es unmöglich scheint, eine andere Position einzunehmen, selbst wenn die Meinungsmacher in ihrer Radikalität für sich den meisten Menschen zu extrem wären.
Es gibt nicht so viele Leute, die tatsächlich knapp bekleidete Frauen auf Hemden oder Werbepostern verbieten wollen. Es gibt nicht so viele Leute, die tatsächlich was dagegen haben, dass Prinzen/Klempner/Spitzohren in Videospielen hilflose Prinzessinnen retten. Es gibt auch nicht so viele Leute, die wirklich mehr als zwei Gedanken an Mädchen-Überraschungseier verschwendet haben oder Uni-Dozenten dazu bringen wollen, ihre Lehrinhalte an der Hautfarbe und dem Geschlecht der beteiligten Forscher auszurichten. Aber im Internet wirken sie wie eine kräftige, laute Armee – weil zu viele andere ihren Mund halten und nicht offen sagen, dass diese Leute mit solchen Aktionen einfach nur ihre eigene Intelligenz beleidigen und eine Schande für unsere Gesellschaft und den Fortschritt der Menschheit sind.