Im Fegefeuer der Kleinigkeiten
Im November 2014 landete die ESA-Sonde Philae auf dem Kometen 67P/Tschurjumow-Gerasimenko – ein Triumph der Wissenschaft. Einen Tag nach der Landung empörte sich die Website TheVerge in einem Artikel mit dem Titel: „I don't care if you landed a spacecraft on a comet, your shirt is sexist and ostracizing.“ Der ganze Text war ein wütendes Rumgezicke, weil einer der Wissenschaftler ein Hemd trug, auf dem einige halb nackte Frauen aufgemalt waren. Das Hemd war ein Geschenk einer befreundeten Designerin, aber das wurde nicht mal als mildernder Umstand gewertet: Die Autoren dieses Geschreibsels prangerten den armen Wissenschaftler an, weil sein Hemd absolut frauenfeindlich und solche Kleidung genau der Grund wäre, warum sich Frauen so selten beruflich in bestimmte wissenschaftliche Gefilde wagen würden. Man bekommt fast den Eindruck, dass eine SS-Uniform unverfänglicher für den armen Kerl gewesen wäre, dessen großer Tag nach über zehn Jahren Arbeit durch so einen behämmerten Shitstorm ruiniert wurde und der zu einer tränenreichen Entschuldigung gezwungen wurde. Und man kommt nicht um den Verdacht herum, dass die lautesten Beschwerden von den frustrierten Frauen kommen, denen Physik sowieso zu harte Wissenschaft ist und die deswegen solche Fächer wie Gender Studies studieren, weil man sich dort durch Gelaber leichter gute Noten ergattern kann. Und dann stellen sie sich selbst hin und wundern sich öffentlich, warum so wenig Frauen in MINT-Berufen arbeiten.
Leider ist dieses Vorkommnis kein Einzelfall mehr. Überall wird gelauert, von welchem nebensächlichen Scheiß man sich angegriffen und unterdrückt fühlen kann, um dann mit selbstgefälligem Moralistendrang selbst anzugreifen und zu unterdrücken, bis alles unterworfen ist, was das Leben bunt, abwechslungsreich und ehrlich macht. Und dabei ist man sich nicht zu fein, sich in Dinge einzumischen, die einen selbst nicht interessieren und einem deswegen scheißegal sein sollten. Deswegen sollen Leute, die einfach nur für sich in ihren eigenen vier Wänden entspannen und ein bisschen Spaß haben wollen, in ihren Videospielen in erster Linie darauf achten, dass die virtuellen Nutten zumindest allesamt aus Freilandhaltung sind, weil die sexuelle Selbstbestimmung von Bits und Bytes natürlich von höchster moralischer Wichtigkeit ist in Games, in denen man Passanten auf dem Bürgersteig überfahren oder Polizisten abknallen kann. Und das alles mit der Begründung, dass die Darstellung in den Spielen die Handlungen der Spieler gegenüber echten Menschen direkt beeinflussen würde. Der Versuch, diese Hypothese irgendwie mit Fakten zu belegen, hat in den letzten Jahrzehnten allerlei Forscher verschlissen, und niemand konnte je schlüssig eine Verbindung nachweisen. Gerade im Bezug auf Videospiele und Sexismus wurde diese Annahme sogar durch eine deutsche Langzeitstudie kürzlich widerlegt.
Und dabei hört es nicht auf, jede Kleinigkeit wird als Anlass zur Empörung genutzt.
- Zwei Freunde erzählen sich zweideutige Witze? Zack, einer der beiden verliert seinen Job. Anscheinend soll man privat nie irgendwas sagen, was man nicht auch auf einem Plakat veröffentlichen würde.
- Eine Firma, die Protein-Shakes zum Abnehmen herstellt, macht Werbung mit einem Bikini-Model und der Frage, ob der Körper schon fit für den Strand ist? Zack, Mega-Shitstorm inklusive Vandalismus. Demnächst darf vermutlich in einer Autowerbung kein Fahrzeug mehr sein, weil das Fußgänger ohne Führerschein in ihrem Selbstwertgefühl verletzen könnte.
- Die Jungs von Knorkator lassen sich in Anlehnung an eine Struwwelpeter-Geschichte auf dem Cover ihres Albums „We want Mohr“ hinter einer schwarzen Frau mit Schirm abbilden? Zack, knallharter Rassismus-Vorwurf. Die Frau ist auch noch eine Freundin der Band und hat sich bei den Aufnahmen sicherlich nicht besonders unterdrückt gefühlt.
- Dieter Hallervorden sagt in der Berliner U-Bahn-Linie U2 die Haltestelle „Mohrenstraße“ an? Zack, wieder ein knallharter Rassismus-Vorwurf. Dabei hat er nicht darum gebeten, genau diesen Bahnhof anzusagen, und für den Straßennamen kann er auch nichts.
- Der Carlsen-Verlag veröffentlicht mit „Singen können die alle!“ ein „Handbuch für Negerfreunde“, auf dessen Cover ein halb nackter Schwarzer mit roter Schleife zu sehen ist? Zack, noch ein knallharter Rassismusvorwurf. Und das, obwohl es sich bei dem melaningesegneten Mann auf dem Cover um den Autor des Buches handelt. Das heißt offenbar, dass man am besten nirgendwo mehr Schwarze abbilden sollte, weil das zweifellos in den Köpfen vieler Aktivisten ganz üble Erinnerungen an den Kolonialrassismus vergangener Jahrhunderte hervorruft.
Wie absurd kleinlich man auf der Suche nach Reibungspunkten sein kann, zeigte kürzlich die Initiative „Laut gegen Nazis“ auf ihrer Facebook-Seite, als man an einem Zitat von Campino gegen Nazis unbedingt die Verwendung des Wortes „asozial“ beanstanden musste, weil das Wort ja schließlich von den Nazis etabliert worden wäre.
Ebenfalls Grund zum Keifen fand man in den letzten Jahren bei den Produktstrategien von Ferrero und Lego, die beide eigens Produkte für Mädchen auf den Markt brachten und sich allein damit auf der Skala der moralisch einwandfreien Betriebe nur knapp über IG Farben platzieren konnten. Ferrero brachte 2012 rosa Überraschungseier raus, Lego veröffentlicht seit 2010 mit „Lego Friends“ eine eigene Produktlinie, die auf Mädchen ausgerichtet ist. Gleichzeitig haben sie auf ihren alten Produkten keinerlei Hinweise, die darauf schließen lassen, dass Mädchen dort als Käufer unerwünscht wären. Heißt auf Deutsch: Sie sind böse, weil sie ihren potenziellen Kunden mehr Auswahl bieten. Und warum machen sie das? Weil die Marktforschung schlicht und einfach ergeben hat, dass Mädchen weder von den normalen Überraschungseiern noch von den herkömmlichen Lego-Baukästen besonders begeistert waren. Da hat man als Hersteller zwei Möglichkeiten: Man frickelt an seinen alten Produkten herum und läuft Gefahr, mit den nötigen Kompromissen alle Käufer zu vergraulen (denn oh Wunder – Jungs und Mädchen haben insgesamt doch unterschiedliche Geschmäcker und Spielweisen), oder man bringt neue Produkte auf den Markt, die auf die neue Zielgruppe zugeschnitten sind. Und dass das klappt, zeigt der Erfolg bei den Kindern; die Lego-Friends-Reihe war nach der Einführung eine der umsatzstärksten Produktlinien von Lego. Kleine Mädchen geben nämlich einen feuchten Furz darauf, was manche Feministen über kitschiges Spielzeug denken.
Und natürlich ist die Farbgebung so, wie sie ist: Wenn ich heutzutage irgendwas vornehmlich für Mädchen anpreisen will, dann wähle ich eine Farbe zwischen blassrosa und fuchsia, damit die Kinder schon aus der Ferne sehen, dass da etwas für sie sein könnte. Das ist die gleiche Logik, nach der in allen Bio-Siegeln grüne Farbe vorkommt. Abgesehen von der dreieckigen Frau auf Klotüren fällt mir auf Anhieb auch kein anderes Signal ein, welches aus 20 Metern Entfernung signalisiert: Das ist für Mädels!
Selbstverständlich klatscht man gerne auch Sprüche wie „Nur für Mädchen“ oder „Nur für Jungs“ auf die Verpackung (wobei weder Lego noch Ferrero letzteres getan haben). Kleine Jungs und Mädchen finden ihre eigene Identität unter anderem dadurch, dass sie sich selbst vom anderen Geschlecht abgrenzen. Mädchen haben Läuse und Jungs stinken, und wenn man das Gefühl kriegt, dass es ein Spielzeug gibt, welches man nicht mit den doofen Jungs bzw. Mädchen teilen muss und wirklich auf die eigenen Wünsche zugeschnitten ist, macht es das einfach noch cooler. Warum wird bei Spielzeug so ein Aufriss darum gemacht, bei Frauenzeitschriften nicht? Und wenn trotzdem ein Junge ein Spielzeug haben will, welches eigentlich für Mädels gedacht ist: Dann kauft man es ihm einfach. Als ich 10, 11 Jahre alt war, stand ein Klassenkamerad voll auf Polly Pocket. Also spielte er nicht nur mit Transformers, sondern auch mit Polly Pocket. Ein anderer Klassenkamerad brachte zur gleichen Zeit beim Spielnachmittag My Little Pony mit (und Transformers ). Und die einzigen, die ein bisschen giftig guckten, waren die Mädels, aber das kam halt auch nur, weil die blöden Jungs quasi in ihrem Territorium wilderten und sie es uns nicht mit gleicher Münze heimzahlen konnten, weil sie Transformers nicht so spannend fanden. (Mal ganz davon abgesehen, dass wir Mädchen, die mit Transformers spielen, eher für cool gehalten hätten.)
Und 25 Jahre später müssen wir tatsächlich eine Diskussion darüber führen, ob man Spielzeug für Mädchen auch Spielzeug für Mädchen nennen darf, nur weil vielleicht Jungs auch daran interessiert sein könnten? Ein Schulprolet wird einen Jungen, der mit Disney-Prinzessinnen spielt, doch sowieso als Schwuchtel bezeichnen, egal ob an der Verpackung oder in der Werbung „Nur für Mädchen!“ dran steht oder nicht. Als verantwortungsbewusstes Elternteil verdrischt man dann einfach den Schulproleten und notfalls seine Eltern, und die Sache ist bereinigt. (Es gibt Leute auf der Welt, die sagen, dass Gewalt keine Lösung wäre. Diese Menschen haben unrecht. ) Und auch wenn ein Mädchen Jungsspielzeug haben will, dann kauft man es ihm einfach. Das ist nun wirklich kein kompliziertes Konzept, und wenn man in der Erziehung nicht vollkommen versagt, wird einem ein Kind auch ganz von selbst sagen, womit es gerne spielen will. Es gibt genug Erwachsene, die sich Kinder-Schokolade in den Schlund stopfen, warum sollte ein Mädchen-Überraschungsei eine unüberwindliche Hürde sein?