Kunst oder Krempel
Kürzlich schmiss in Italien eine Putzfrau in einer Kunstgalerie zwei Kunstwerke weg, die laut Versicherung 10.000 Euro wert gewesen sein sollen. Es handelte sich dabei um zerkrümelte Kekse auf dem Boden und herumliegende Zeitungen. Ich möchte dies noch einmal wiederholen: Jemand glaubte, zerkrümelte Kekse und ein paar alte Zeitungen wären 10.000 Euro wert. Liebe Leute, das hat nichts mehr mit Kunst zu tun, das ist Beschiss. In dem Fall hätte es genau zwei richtige Reaktionsmöglichkeiten gegeben:
- dem Künstler ein paar hinter die Löffel zu geben für seine Dreistigkeit,
- von Opas Dachboden einige alte Ausgaben vom „Völkischen Beobachter“ mitzubringen und ein paar Butterkekse (müssen ja nicht von Leibniz sein, oder?) zu zertrampeln, um den Schaden vollständig und kostengünstig zu beheben.
Man beachte, dass keiner dieser Punkte erwähnt, 10.000 Euro für etwas zu zahlen, was jeden Tag weltweit Millionen Haushalte versehentlich kreieren. Ich bin wirklich niemand, der leichtfertig einem Werk den Status als Kunst aberkennt, nur weil das Werk nicht den persönlichen Geschmack trifft. Ich glaube allerdings an den Spruch: „Kunst kommt von können, nicht von wollen, sonst würde es ja Wunst heißen.“ Wenn jemand für den Entwurf seines Kunstwerks weniger Zeit aufgewendet hat als für die Erklärung der angeblichen Bedeutung des Kunstwerks, spricht alles dafür, dass es faule oder wenigstens ziemlich lausige Kunst ist. Der amerikanische Kolumnist Dave Barry erwähnte mal ein Kunstwerk, welches nur aus einem Stuhl bestand, welchen der Künstler aus dem Müll rettete. Der Künstler hielt sich trotzdem für mehr als nur einen Bullshit-Artist, der Leute mit seiner Redegewandtheit übers Ohr haut.
Das Problem mit den besagten Kunstwerken, die die Putzfrau entsorgt hat, war natürlich, dass sie einerseits als Kunstlaie nicht erkennen konnte, dass das Kunst sein sollte, aber andererseits als Fachkraft für Sauberkeit und Abfallbeseitigung haargenau erfasste, dass es Müll war. Ich glaube, sie hatte die besseren Argumente. „Ist das Kunst oder kann das weg?“ ist nicht umsonst ein oft gebrauchter Kommentar bei solchen Werken. Der oben verlinkte BBC-Artikel erwähnt ein Kunstobjekt von Damien Hirst aus leeren Bierflaschen, Kaffeebechern und vollen Aschenbechern, welches 2001 irrtümlich weggeräumt wurde. Joseph Beuys‘ „Fettecke“ wurde 1986 von einer Reinigungskraft weggeputzt, und vor etwas über zwei Jahren wischte eine Putzfrau in Dortmund einen Kalkfleck weg, der zur Kunstinstallation „Wenn’s anfängt durch die Treppe zu tropfen“ von Martin Kippenberger gehörte. Der Wert des Kunstwerks sollte angeblich 800.000 Euro betragen. Ein Kunstexperte heulte damals rum, dass es ja nicht dasselbe wäre, wenn man den Fleck wieder hinmachen würde, weil die Intensität des Originals fehlen würde.
Selbst bei nicht zerstörten oder beschädigten Kunstwerken fragt man sich angesichts der angeblichen Werte, ob die Kunstexperten tatsächlich die klügeren Leute sind oder ob hierbei die Kunstbanausen nicht doch einen etwas klareren Blick haben. Ein gutes Beispiel ist das Foto „Rhein II“ von Andreas Gursky. Auf diesem (am Computer retuschierten) Bild sieht man nur den grauen Rhein unter einem bewölkten Himmel, im Vordergrund eine grüne Wiese. Für dieses Foto in der Größe von 1,90m*3,60m hat bei einer Kunstauktion jemand 3,1 Millionen Euro bezahlt.
Das ist an sich schon deswegen irgendwie dämlich, weil Gursky die Datei sicherlich noch auf seiner Festplatte hat und weitere Drucke anfertigen lassen könnte, die mit dem verkauften Exemplar komplett identisch wären. Aber auch sonst ist es irgendwie schwer zu glauben, dass jemandem das Bild tatsächlich so sehr gefällt, dass er dafür den Gegenwert von zehn Einfamilienhäusern bezahlt. (Ich will damit nicht sagen, dass einem das Bild nicht gut gefallen kann. Aber für 3 Millionen Euro sollte man damit dann auch Dinge tun können, die sich nicht darauf beschränken, es an die Wand zu hängen und gelegentlich mal anzuschauen. Und ja, ich rede von Sex. Aber bei einem Foto schneidet man sich währenddessen höchstens am Papier, bäh.) Als Anlageform ist das Bild aber auch eine ziemlich blöde Investition, weil man dann darauf hoffen muss, jemanden zu finden, der noch reicher und dussliger ist.
Noch schöner ist es, wenn man den Experten dann dabei zuhört, wenn sie versuchen, diese Kunstwerke zu interpretieren, denn natürlich reicht es ja nicht, wenn man ein Werk einfach nur schön, ergreifend oder sonst irgendwie ansprechend findet. In diesem Video zum Beispiel sieht man ein Gursky-Foto vom Frankfurter Flughafen, wobei die Anzeigetafel mit den ganzen Flügen den Großteil des Bildes ausmacht. Der Kurator des Museums erklärt dann, dass auf den ersten Blick alles normal erscheine, aber beim zweiten Blick erkenne man, dass dort Zielorte genannt werden, die keinen Sinn ergeben würden, etwa „Köln Hbf“. Und daraus folgert er dann, dass Gursky solche Sachen eingebaut hätte, um einerseits globale Themen anzusprechen, aber andererseits vergessene Orte thematisieren wollte. Die ganz banale (und tatsächliche) Erklärung ist, dass die Lufthansa in Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn Zugverbindungen wie z. B. zwischen Köln und dem Frankfurter Flughafen anbietet und diesen Zügen sogar eigene Flugnummern zuweist. Aber für diesen Kurator ist das Auftauchen eines Bahnhofs auf der Anzeigetafel des größten Flughafen Deutschlands ein Ausdruck der Genialität des Fotokünstlers.
Dummerweise sind viele Leute, die irgendein Kunstwerk aus welchen Gründen auch immer mögen und sich ihre wundervoll intellektuell anmutende Interpretation über die Aussage des Werkes zurechtgelegt haben, sehr oft davon überzeugt, dass jeder Mensch ihre Meinung – und ihre Interpretation – teilen müsse. Andernfalls entlarvt man sich nicht nur als Banause, sondern geradezu als geistig minderbemittelte Beleidigung für die menschliche Evolution. Man hält die Bilder von Pablo Picasso für ziemlich hässlich? „Der Schimmelreiter“ von Theodor Storm wird als überschätztes Geschreibsel abgetan? Pfui, wie kann man es nur wagen, ein Urteil über diese menschgewordenen Götter der Kunst abzugeben, welches keine atemlose Bewunderung zum Ausdruck bringt! Offenbar gehört man zum geistigen Prekariat, nur an Fressen und Ficken interessiert, ohne Sinn für Höheres und dem Schwein näher als dem Bildungsbürger. Denn sonst würde man ja die Botschaft hinter diesen Werken verstehen (egal ob der Künstler dieselbe Botschaft meint wie sein engagierter Streiter) und hätte dann gar keine andere Wahl, als ebenfalls in glühender Liebe gegenüber dieser Kunst zu entbrennen.
Das ist natürlich absoluter Käse. Ich bin durchaus in der Lage zu interpretieren, vielen Dank. Ich bin dank meines Studiums quasi darin ausgebildet. (Nicht, dass das irgendwie im realen Leben helfen würde.) Ich hab auch die Botschaft von J. D. Salingers „Der Fänger im Roggen“ verstanden – ebenfalls ein Buch, welches offenbar drei Viertel der Leser absolut lieben. Und trotzdem hat es mich nicht angesprochen. Und das ist die Hauptsache, die Kunst für mich wertvoll macht: Es muss mich irgendwie berühren, emotional bewegen, mich in irgendeiner Form aus der diffusen Indifferenz reißen, die ich für die meisten banalen Dinge übrig habe. Da kann die Absicht des Künstlers noch so nobel oder tiefsinnig sein, wenn er es nicht schafft, meine Aufmerksamkeit zu halten, kann man wohl kaum von mir erwarten, dass ich glaube, er wäre von der Muse wild gevögelt worden, um sein Werk zu erschaffen.
Für den hochpreisigen Kunstmarkt ist das natürlich nicht relevant. Die Leute dort sitzen frohgemut in ihrer selbst geschaffenen Echokammer, klatschen sich gegenseitig auf die Schultern, wie toll die von ihnen entdeckten Künstler sind, und insgeheim ist man stolz auf seine Torwächterfunktion. Man bestimmt schließlich selbst, wer als großer Künstler gilt. Und so ist die Qualität der Kunstwerke doch eher zweitrangig, wichtiger ist, wen ein Künstler kennt. Damien Hirst könnte in ein Taschentuch schnäuzen und die Rotzfahne noch mindestens für eine Viertelmillion Dollar verkaufen, während ein außenstehender Künstler selbst sein bestes Werk nicht mal für ein Fünftel an den Mann bringen könnte. Und doch denkt man sich in diesen Kreisen die ganze Situation schön, pflegt seine intellektuellen Interpretationen der hoch geschätzten Kunstwerke, mit denen man prima begründen kann, warum sie so wertvolle Kunst sind, und schmettert Kritiker als Neider oder Unwissende ab.
Es ist ein bisschen so wie beim Kaiser und seinen neuen Kleidern. Nur wird man in den entsprechenden Kreisen wohl nie ein Kind akzeptieren, welches sich traut, auf die nackte Wahrheit hinzuweisen.