Die Multifunktionskarte, die dann doch nicht funktionierte
Nuff! Ich grüße das Volk.
Wenn Menschen aus anderen Ländern nach Deutschland kommen, sind sie oft erstaunt: Was Digitalisierung angeht, sind wir hier ganz schön hinterher, insbesondere in Behörden. (Und selbst das, was in Behörden digitalisiert ist, entpuppt sich oft als mittelschwere Katastrophe. So soll etwa jetzt in Berlin eine alte, störanfällige Software durch eine andere ersetzt werden - die seit 2016 nicht mehr gepflegt wird. )
Das liegt aber gar nicht mal daran, dass es an Visionen fehlen würde, was man tun sollte. Aber zwischen Idee und Umsetzung klafft oft ein unüberwindlich scheinender Graben, und ganz viele Leute holen auch noch die Schaufel heraus, um ein paar Meter zusätzlich wegzubaggern. Als ein Beispiel möchte ich einen Artikel aus dem Ferkelfachblatt "Wochenend" hervorkramen, welches in einer Ausgabe von 1999 eine Innovation anpries, bei der es auf den ersten Blick gar nicht unwahrscheinlich schien, dass sie binnen weniger Jahre Realität werden könnte: die Multifunktionskarte.
Versetzen wir uns zurück in die Zeit kurz vor der Jahrtausendwende: Handys sind gerade erst dabei, zum Alltagsgegenstand zu werden, ins Internet muss man sich meistens noch per Modem zu horrenden Minutenpreisen einwählen, der Sammlermarkt für Telefonkarten fängt an zu bröckeln, die Menschen tanzen zu Mambo No. 5, auf RTL startet eine Quiz-Sendung namens "Wer wird Millionär?" und bei McDonald's gibt's Snoopy-Figuren im Happy Meal.
Telefonkarten hatte ich bereits erwähnt, EC-Karten waren ebenfalls normale Alltagsgegenstände und 1995 hatte man die Krankenversichertenkarte eingeführt. Auch der Personalausweis war schon eine Karte und kein Heft mehr, allerdings größer als das normale Scheckkartenformat. Man schleppte also durchaus schon einige Karten mit sich herum.
Dies ist der Ausgangspunkt, an dem die "Wochenend"-Zeitschrift folgenden Artikel veröffentlichte.
Eine für alles
Bahn frei für die Multifunktionskarte
Die Service-Card dient als Geldbörse, Fahrschein, Eintrittskarte, Club- und Firmenausweis zugleich
Bei dem Namen müsste man noch was machen, mit "Service" haben wir es hier nicht so. Als die Deutsche Bahn ihre Kundenzentren in Service Points umbenannt hat, dachten wir doch alle, das wäre ein aufwendiger Witz.
Die Zeiten, in denen die Kartenfächer der Brieftasche aus den Nähten zu platzen drohen, dürften bald vorbei sein. Der Trend geht zur Multifunktionskarte. Mit einem intelligenten Computerchip ausgestattet, eröffnet diese neue Generation von Service-Cards dem Besitzer eine riesige Vielzahl von Möglichkeiten. Ob telefonieren, einkaufen, sich ausweisen, tanken oder U-Bahn fahren - alles klappt mit einer Karte!
Oha, da war es schon ein Trend! Offenbar war der Zug des Fortschritts damals schon in voller Fahrt und eigentlich nicht mehr aufzuhalten!
Die Fortschritte in der Entwicklung von Chipkarten sind unglaublich rasant. Immer neue Anwendungen helfen, die Abwicklung täglicher Geschäfte zu erleichtern. Wenn Unternehmen mit Banken, Telefonanbietern und Behörden übereinkommen, könnten Service-Cards mit immer neuen Funktionen beladen werden. Auf die Geldkarte mit einem kompletten Kleinstcomputer passen ohne weiteres etwa ein Firmen-, ein Krankenversicherungs- und ein Fitnessclubausweis. Dabei sind die winzigen Chips gerade mal noch drei zehntel Millimeter dick und kosten in der Herstellung dann höchstens ein paar Pfennig.
Oh-oh... Da sehe ich schon erste Wolken am Himmel aufziehen. "Wenn" die einzelnen Institutionen übereinkommen... das ist ein ziemlich dickes "Wenn". Oft sind die Abteilungen innerhalb dieser Unternehmen und Behörden sich schon spinnefeind.
In einigen deutschen Ferienregionen werden Varianten dieser Service-Cards bereits erprobt. Auf Sylt können Touristen beispielsweise mit einer entsprechenden Plastikkarte am Fischstand einkaufen, das Meerwasserschwimmbad benutzen und den Eintritt zum Kurkonzert abbuchen lassen.
Wie sieht's damit heutzutage aus? Sylter bzw. Sylt-Touristen ohne 9-Euro-Ticket und Bierlieferung per Amazon vor: Gibt's diese Service-Card da noch oder könnt ihr euch an die erinnern?
An der Bochumer Ruhr-Universität dient eine Allroundkarte zugleich als Studentenausweis, ermöglicht den Internet-Zugang, hilft bei der Rückmeldung zum Semesterbeginn und bei der Reservierung und Bestellung von Büchern in der Bibliothek.
Ich erinnere mich, wie 2004 an der Uni Potsdam die Chipkarte als Studentenausweis eingeführt wurde. Die half zwar nicht beim Internetzugang, war aber gleichzeitig Semesterticket. An der Humboldt-Uni in Berlin wiederum hantierte man zu meiner Zeit immer noch mit Papierausdrucken herum und führte erst 2016 eine Chipkarte ein. Wie wir sehen: Wenn die an den Unis fleißiger Fickhefte gelesen hätten, wären sie sicher schon früher drauf gekommen.
Bahn frei für die Multifunktionskarte! Das sagen sich auch die Mobilfunkgesellschaften. Sie entwickeln bereits Handys für den Einstieg ins Geschäft mit den Service-Cards. In Österreich können Kunden bereits mit ihrem Handy Bahntickets ordern. Auf dem Display liest der Kontrolleur dann einfach die Buchung ab. Für Norweger und Finnen ist es schon kein Problem mehr, sich mit dem Handy eine Dose Cola aus dem Automaten zu holen. Der Durstige wählt eine Nummer auf der Getränkebox an, die Dose kommt raus, bezahlt wird mit der nächsten Telefonrechnung.
So ganz verstehe ich nicht, was die Multifunktionskarte mit den Handys zu tun hat, aber ich muss auch hier feststellen: In Deutschland kam so was lange Zeit nicht an. (Ich hab noch gelernt, WAP-Seiten in WML zu schreiben, weil die Prä-Smartphone-Handys nichts mit normalen HTML-Websites anfangen konnten. War nur eine komplett nutzlose Fähigkeit - schließlich wollte auch niemand mit Handys WAP-Seiten abrufen. Das war nämlich scheißteuer.)
In Frankreich ersetzt das Handy teilweise schon die EC-Karte. France-Telecom-Kunden ist es möglich, in Paris am Bankautomaten per mobiles Telefon Geld zu ziehen oder damit in Kaufhäusern Rechnungen zu begleichen. In Deutschland wird die Entwicklung ebenfalls in diese Richtung gehen. Denn in spätestens vier Jahren, so prognostizieren die Netzbetreiber hierzulande, wird jeder zweite Bundesbürger Besitzer eines Mobiltelefons sein. Damit ließen sich dann auch die meisten Einkäufe und Überweisungen abwickeln.
Im Jahr 2000 gab es schon 48 Millionen Handynutzer in Deutschland - aber trotzdem dauerte es fast mehrere Jahrzehnte, bis das Bezahlen per Handy halbwegs normal wurde, und ohne Pandemie hätte das vermutlich noch länger gedauert. Trotzdem habe ich das Gefühl, der Autor des Artikels hat vergessen, dass es eigentlich um Chipkarten gehen sollte und nicht um Handys.
Im Kampf der Banken, Händler und Mobilfunkgesellschaften um die Gunst des Verbrauchers gibt's bereits einen Gewinner: die Chipkartenhersteller. Ihre Prognose: Der Umsatz mit den Service-Cards wird sich in den nächsten vier Jahren noch einmal verdreifachen!
Wären Chipkartenhersteller nicht eher daran interessiert, für jeden Zweck eigene Karten herstellen zu können? Wenn jeder nur eine Karte braucht, bringt das doch weniger Geld ein, als wenn ... Okay, ich glaube, ich habe herausgefunden, warum die Multifunktionskarte dann doch nicht kam.
Neben dem unbegründeten Optimismus bezüglich des Tempos der vorhergesagten Technikrevolution in dem Artikel amüsiert mich besonders, dass der Autor sich irgendwann in der Mitte zu den Handys verirrt und am Ende wieder versucht, den Bogen zur Multifunktionskarte zu schlagen, während sich in der Realität aktuell herausstellt, dass die Multifunktionskarte gar keine Rolle spielen dürfte und stattdessen Smartphones zu den Multitalenten geworden sind, die der Autor in den Karten sehen wollte. In zehn Jahren kann man vielleicht den Alltag gar nicht mehr ohne Smartphone bewältigen, weil zu viele Dienstleistungen eine Legitimation verlangen, die eigentlich nur per Handy vorgezeigt werden kann. Schon heute ist bei einigen Banken der Zahlungsverkehr online nur noch per App möglich, weil es keine andere Möglichkeit gibt, die nötige TAN zu generieren. Vielleicht setzt sich in Zukunft ja auch ein neuer Name durch, denn die Telefonfunktion eines Smartphones ist vermutlich inzwischen zumindest bei jüngeren Jahrgängen die unwichtigste, noch nach der als Taschenlampe.
Das war nicht der einzige Artikel aus der "Wochenend", der sich mit Zukunftsvisionen beschäftigte. Die Zeitschrift befragte 1999 auch Männer nach ihren Vorstellungen und Wünschen für das Jahr 2000 und die Jahre danach, und in einem weiteren Artikel ein Jahr später präsentierte man Vorhersagen, wie Liebe, Sex und Beziehungen sich von 2010 bis 2050 entwickeln würden. Ich habe diese Artikel vor ein paar Tagen für Premiummitglieder im Blog kommentiert.
Ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit! Schreibt eure Gedanken zu dieser verhinderten Innovation ruhig in die Kommentare. Fällt euch vielleicht auch eine andere technologische Entwicklung ein, die mit großen Hoffnungen präsentiert wurde, dann aber nicht wahr wurde und nun aber in einer anderen Form wiederkommt?
Ich freue mich wie immer über eure Unterstützung, sei es per Guter Sex, YOGTZE oder direkt per Premium-Mitgliedschaften oder Spenden!
Beim nächsten Mal habe ich Neuigkeiten zu einer Sache, die schon mal im Blog Thema war. Bis dann!
Premiummitglied
Ich warte immer noch auf die Hover Boards aus zurück in die Zukunft, die müssten längst da sein...
Sind wir mal ernst, es wird nie verlässliche Prognosen über die Zukunft geben...