Klopfer beim Casting
„Herr Klopfer?“
Der Mann im Anzug schaute verblüfft auf die pelzige Gestalt, die durch seine Bürotür schritt, seine Tasche ablegte und auf den Stuhl vor dem Schreibtisch kletterte. Er räusperte sich.
„Sie … sind ein Hase.“ Es sollte sachlich klingen, war aber in seiner Offensichtlichkeit eine ziemlich dämliche Bemerkung.
„Ihre Mutti hat Sie früher sicherlich häufig für Ihre schnelle Auffassungsgabe gelobt“, antwortete der Angesprochene mürrisch. „Sie sind ein Hase“ war fast immer der erste Satz, den er von Fremden hörte, noch vor „Guten Tag!“ und „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Ihnen auf den Fuß getreten bin.“
Der Mann hinter dem Schreibtisch kicherte nervös und blätterte hastig in einem Papierstapel. „Ähm, ja, Jonas Bürger ist mein Name, ich bin der Casting Director der Junk TV Produktionsgesellschaft. Und Sie wollen tatsächlich hier beim Casting mitmachen?“, vergewisserte er sich vorsichtig.
„Sie können mich natürlich auch einfach so nehmen“, schlug Klopfer selbstbewusst vor.
„Das ist eher unüblich bei uns“, sagte der Bürger bedauernd und überflog hastig einen Zettel. „Ich hätte aber, bevor wir Sie testen, noch ein paar Fragen zu dem Formular, das Sie ausgefüllt haben.“
„Es tut mir leid, wenn ich zu viele mehrsilbige Wörter verwendet haben sollte“, brummte Klopfer.
„Unter dem Punkt Besondere Errungenschaften haben Sie geschrieben, dass Sie die erste Person wären, die in Deutschland ein Verfahren wegen Vorbereitung eines Angriffskriegs gekriegt hat? Und darauf sind Sie stolz?!“, fragte der Casting Director fassungslos.
„Nein. Aber nach Stolz war ja auch nicht gefragt. Die ganze Sache war sowieso ein Missverständnis und wurde eingestellt“, erklärte Klopfer.
„Ein Missverständnis“, wiederholte der Bürger, ohne es wirklich zu verstehen.
„Ja. Das Land, um das es ging, hätte sich gar nicht gewehrt“, sagte Klopfer ruhig.
Die Augenbrauen des Castingtypen zuckten kurz nervös. Er räusperte sich verlegen und ließ seinen Blick wieder auf das Blatt Papier in seiner Hand fallen.
„Sie haben bei der Frage nach dem Geschlecht riesig angegeben. Ich glaube, das ist auch ein Missverständnis.“
„Das ist jetzt unverschämt, Sie haben mein Geschlecht gar nicht einsatzbereit gesehen“, tadelte Klopfer und schaute sich stirnrunzelnd um. „Ist auch ganz schön kalt hier drin, muss ich mal kritisch anmerken.“
Resignierend ließ der Bürger den Zettel sinken. „Hören Sie, ich glaube, Sie sind hier wirklich verkehrt. Wir machen keine Kindersendungen, was sollen wir mit einem großen Hasen?“
Mit einem Elan, den ihm vielleicht niemand zugetraut hätte, sprang Klopfer auf den Stuhl und erhob seine Stimme: „Kindersendungen?! Ich bin entsetzt über diese Engstirnigkeit! Ein Hase ist nicht einfach nur niedlich!“ Er kletterte auf den Schreibtisch und packte den Castingkerl am Schlips. „Ich verklage Sie wegen Diskriminierung, hören Sie?! Ich mach Sie und Ihren Puff hier platt! Ich verlange zehn Millionen und Ihre Eier auf einem Silbertablett! Wollen Sie das?! Sehe ich in Ihren Augen tatsächlich den Herzenswunsch, in einem halben Jahr Obdachlosen die Schwänze lutschen zu müssen, um wenigstens etwas Warmes in den Bauch zu kriegen?!“
Jonas Bürger konnte nicht anders, als sich das bildlich vorzustellen, und schauderte sichtbar. Als Klopfer seine Krawatte losließ, schluckte er heftig und kauerte demütig in seinem Bürostuhl. Offenbar war dieser Hase zu allem bereit, und selbst wenn er die Firma nicht zerstören würde, dann doch sicherlich Bürgers berufliche Aussichten.
„Aber“, räusperte er sich, „in welchem unserer Formate sehen Sie sich denn dann? Hannover rund um die Uhr? Familienmitglieder unter Verdacht? Vatertausch? Tintenloch – Der Analtätowierer?“
„Alles Scheiße!“, verkündete Klopfer. „Da muss mit eisernem Besen ausgefegt werden! Diese Sendungen sind das Krebsgeschwür des Fernsehens! Oder gucken Sie die Grütze etwa?“
„Nein, ich bin doch nicht bekloppt“, entfleuchte es dem Castingchef wohl schneller, als sein Verstand es gestattete.
„Sehen Sie? Und deswegen habe ich hier für Sie ein Konzept für eine Reality-Sendung vorbereitet, die alles vereinigt, was unser Land heutzutage braucht. Bildung, politisches Engagement, gesellschaftliche Führung und die Motivation für den Zuschauer zu partizipieren, um ein großes Ganzes aufzubauen!“, wedelte Klopfer mit einem ganzen Stapel Papier, den er unvermittelt aus seiner Tasche gezogen hatte. Entschlossen warf er die Zettel auf den Schreibtisch. Jonas Bürger griff vorsichtig nach der ersten Seite.
„Klopfers Weg zur Macht?!“, entfuhr es ihm.
„Ein Arbeitstitel. Kann problemlos noch pompöser werden“, versicherte Klopfer.
„Klopfer reist in Luxuslimousinen durch das Land und einigt die tief gespaltene Bevölkerung, indem er sie auf eine neue Ordnung einschwört. Die Sendung beleuchtet aber auch den privaten Klopfer, der selbst am Abend nach einem kräftezehrenden Auftritt unermüdlich in der kargen Umgebung einer Präsidentensuite an seiner Vision für die ganze Welt arbeitet. Dabei lernt man den sympathischen Hasen auch von seiner sensiblen Seite kennen. Sagen Sie mal, waren Sie in der jüngsten Zeit beim Psychologen?!“, fragte der Casting Director fassungslos.
„Letzte Woche. Nach zwanzig Minuten sagte er, er würde mich sofort wählen“, antwortete Klopfer gleichmütig.
„Und was soll das hier? Klopfers treue Assistentinnen sind sechs ehemalige Playboy-Playmates, die aufgrund einer Stoffallergie meistens fast gänzlich unbekleidet sein müssen. Zudem haben sie alleine Angst im Dunkeln und müssen daher nachts das Bett mit Klopfer teilen. Das ist doch…“
„Die Sendung muss doch etwas fürs Herz bieten! Ich meine, Sie erleben mich persönlich, Sie können meine glühende Herzensgüte förmlich spüren. Aber das muss man denen an den Bildschirmen ebenfalls vermitteln! Deswegen der Kniff mit der tragischen Erkrankung der jungen Damen, der ich mit viel Verständnis und Mitgefühl begegne, ohne Berührungsängste zu pflegen. Glauben Sie mir, das ist brillant!“, rief Klopfer begeistert.
Jonas Bürger rieb sich die Schläfen. Er hatte schon beim Aufstehen das Gefühl gehabt, dass der Tag schwierig werden könnte. Er war zu optimistisch gewesen.
„Herr Klopfer … Ich fürchte, Ihr Konzept ist für unsere kleine Produktionsfirma etwas zu … ambitioniert. Allein die Kosten …“, versuchte er zu erklären.
„Genug! Ich verstehe, was Sie sagen wollen. Sie finden’s Scheiße“, schnaubte Klopfer. „Es ist Ihnen zu intellektuell. Nichts für das geistige Prekariat, für das Sie bislang Ihre anspruchslos heruntergekurbelten Machwerke in die Welt koteten!“ Wütend riss er das Blatt Papier aus den Fingern des Casting Directors und packte sein sorgsam ausgearbeitetes Konzept wieder in seine Tasche.
„Wissen Sie“, schimpfte er weiter, „Ich glaube an das Gute im Menschen. Ich glaube daran, dass er sich verbessern will. Ich dachte, Sie wären zu Größerem fähig. Aber ach, ich habe mich geirrt. Sie, mein Herr, sind verschwendetes Potenzial! Kein Wunder, dass Ihre Mutter sich manchmal wünscht, Sie damals geschluckt zu haben.“
„Meine Mutter?!“ Jonas Bürger empört sprang auf. Das ging jetzt wohl wirklich zu weit!
„Wir haben den gleichen Psychologen. Sie hatte mir empfohlen, zu Ihnen zu gehen. Sie hatten heute die Möglichkeit, die seelischen Wunden Ihrer Mutter zu heilen. Aber nein, Ihr Egoismus stand Ihnen wieder im Weg! Dieses übersteigerte Geltungsbedürfnis, mit dem Sie schon Ihren Vater in den Alkoholismus trieben. Jeder andere Mensch hätte ein schlechtes Gewissen. Aber Sie nicht. Sie sind so auf sich bedacht, dass Ihnen gar nicht aufgeht, wie sehr Sie den Leuten in Ihrer Umgebung wehtun. Sie, mein Herr, sind ein böser Mann!“, rief Klopfer zum Abschied und knallte die Bürotür zu.
„Mama …“, schluchzte Jonas Bürger auf. Tränen liefen über seine Wangen, zuckend sank er auf seinem Schreibtisch zusammen. Sein Wimmern war bis auf den Flur zu hören. „Mama … Papa …“, sagte er immer wieder und wieder mit tränenerstickter Stimme. „Papa …“
Jonas stutzte. „Moment mal, mein Vater ist doch abgehauen, bevor ich geboren wurde …“
Draußen verließ Klopfer fröhlich pfeifend das Gebäude. Morgen wäre Brainpool dran.
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Genial. Und schon wieder einen bemitleidenswerten Lakaien eines privaten Fernsehsenders in den Wahnsinn getrieben, so räumt man die Medienlandschaft für Gehirnlose oder im Wachkoma liegende Mitmenschen richtig auf.