Wie hältst du's mit der Religion?
Okay, wieder mal ein spontaner Eintrag, der sich aus Twitter-Reaktionen ergibt.
Angela Merkel hatte auf der Synode der Evangelischen Kirche Deutschlands eine Rede gehalten und dabei gesagt: "Das Christentum ist die weltweit am meisten verfolgte Religion." (Nebenbei hat sie der Trennung zwischen Kirche und Staat auch noch eine Absage erteilt, wofür ich sie gerne hauen würde, aber das ist eine andere Geschichte.)
Ich hatte mein Erstaunen über diese Aussage bei Twitter geäußert, und viele schrieben mir, dass es ja stimmen würde, mit Link auf die Wikipedia. 100-200 Millionen Christen werden allein wegen ihrer Religion verfolgt, 75 bis 80 Prozent der Menschen, die sich wegen ihrer Religion verfolgt fühlen, bekennen sich zum Christentum, so die Aussagen in dem Artikel. Demnach wäre die Sache ja eindeutig, nicht wahr? Die Christen stellen den größten Anteil der Leute, die wegen ihrer Religion verfolgt werden.
Aber das Christentum ist auch die größte Religion der Welt! Über 2,2 Milliarden Menschen auf der Welt sind Christen. Selbst wenn man von 200 Millionen verfolgter Christen ausgeht, heißt das, dass über 2 Milliarden Christen nicht verfolgt werden, mehr als es Moslems gibt. Nach haargenau der gleichen Logik wie oben folgt: Das Christentum ist die am wenigsten verfolgte Religion der Welt!
Und die Aussage ist natürlich in der Form genauso großer Quatsch, weil die Logik total bescheuert ist. Um es mal an einem Beispiel zu verdeutlichen: Es gab 1935 schätzungsweise 16 Millionen Juden auf der Welt. Im Holocaust wurden Millionen Juden ermordet. Nach den oben angewendeten Maßstäben hätte das Judentum nicht zu den am meisten verfolgten Religionen gehört, und das einfach nur deswegen, weil es nicht so viele Juden gab, um in dieser fiktiven Shitliste nach ganz oben zu kommen.
Heutzutage gibt es 14 Millionen Juden auf der Welt, weitaus weniger als die verfolgten 100 oder 200 Millionen Christen. Und trotzdem: Will tatsächlich irgendjemand behaupten, dass ein Christ global gesehen deutlich mehr Angst vor Verfolgung haben müsste als ein Jude? Gerade in den (vornehmlich islamisch geprägten) Ländern, in denen Christen schlecht behandelt werden, herrscht auch für die Juden nicht gerade eitel Sonnenschein. Wenn man einordnen will, welche Religion tatsächlich für sich beanspruchen kann, für ihre Anhänger am gefährlichsten zu sein, muss man auch einordnen, in welchem Verhältnis die Verfolgung zur Gesamtzahl ihrer Gläubigen steht, wie schnell die Religion wächst, wie verbreitet sie ist und wie die Verfolgung eigentlich aussieht, denn ich würde schätzen, dass es wesentlich schlimmer ist, wenn Mitglieder einer Religion umgebracht werden, als wenn mehr Mitglieder einer anderen Religion unterdrückt werden, indem sie keine Gotteshäuser bauen dürfen.
Und jetzt komme ich noch einmal auf die Aussage unserer Kanzlerin zurück. Wenn jemand sagt, dass das Christentum die weltweit am meisten verfolgte Religion ist, dann hat das natürlich den Zweck, das Christentum als Opfer darzustellen und den Zusammenhalt unter den Gläubigen zu forcieren, die unter dem Eindruck einer Aggression von außen zusammenrücken sollen, selbst wenn sie selbst gar nicht persönlich betroffen sind. (Psychologisch gesehen soll das Gleiche passieren wie bei den Amerikanern nach dem 11. September, die aufgrund des Gefühls "Wir werden angegriffen!" in einen überschäumenden Patriotismus verfallen sind.)
Und wenn man sich dann daran erinnert, dass das Christentum immer noch mit großem Vorsprung die meistverbreitete Religion der Welt ist und in vielen Ländern der Erde auch eine gewisse politische Macht darstellt (so hätte z.B. ein Atheist keine Chancen, US-Präsident zu werden; hier in Deutschland sitzen Vertreter der katholischen und evangelischen Kirchen ganz selbstverständlich staatlich garantiert in vielen Gremien), dann hat das für mich einen ganz faden Beigeschmack. Man kann auch gegen die systematische Unterdrückung von Gläubigen kämpfen, ohne sich mit so einer billigen Verzerrung in die Opferrolle zu drängen.